Tariq Ali: «Wer eine Wut auf die extreme Mitte hat, bleibt heute zu Hause»

Nr. 33 –

Der pakistanisch-britische Intellektuelle und Aktivist Tariq Ali ortet in seinem kürzlich erschienenen Buch neue Chancen für die Linke. Diese müsse von Syriza und Podemos lernen, wie er im Gespräch betont.

Tariq Ali, Publizist.

«Die Sozialdemokratie ist überflüssig geworden», schreibt der pakistanisch-britische Intellektuelle Tariq Ali in seinem neuen Buch «The Extreme Centre», das Anfang Jahr auf Englisch erschienen ist. Als die Sozialdemokratie in den neunziger Jahren begonnen habe, sich dem Kapital unterzuordnen, habe sie dem demokratischen Prozess den Rücken gekehrt und sich damit zum Selbstmord entschlossen – alles, was sie den traditionellen AnhängerInnen heute noch bieten könne, seien leere ideologische Floskeln. Ali ortet eine existenzielle Krise der europäischen Demokratie: Eine reaktionäre Finanzmaschinerie gebe in der EU den Ton an, während gleichzeitig in den Medien eine neue Kultur der Konformität zu beobachten sei. Die Symbiose zwischen Macht und Geld habe extreme Ausmasse angenommen.

Geheimdienst im Nacken

Tariq Ali galt einst als gefährlicher Mann. Ende der sechziger Jahre war er das bekannteste Gesicht der britischen Bewegung gegen den Vietnamkrieg, und die Behörden hatten ihn im Visier: Special Branch, die für die nationale Sicherheit zuständige Polizeibehörde, studierte seine Reden, die Staatsanwaltschaft ordnete eine Überprüfung seiner Aktivitäten an, und mehrere Parlamentsabgeordnete forderten die Abschiebung des aufwieglerischen Studenten, der im Alter von zwanzig Jahren von Pakistan auf die Insel übersiedelt war. Im Mai 1968, als er sich zur Abreise nach Paris bereit machte, warnte ihn ein anonymer Mitarbeiter des Aussenministeriums, dass ihn die britische Regierung nicht wieder ins Land lassen würde, sollte er ins Flugzeug steigen. Für einmal ging Ali kein Risiko ein und blieb in Britannien. Die StudentInnenunruhen im Quartier Latin erlebte er, sehr zu seinem Bedauern, nur aus der Ferne.

Heute ist der 72-jährige Ali noch immer in London, niemand kann ihn ausschaffen – dabei haben sich seine Ansichten kaum geändert, und weniger aktiv ist er auch nicht. Beim Besuch in seinem Haus in Highgate im Norden der Stadt warnt er sogleich, dass er nicht viel Zeit habe: Noch heute müsse er ein Zusatzkapitel für die spanische Ausgabe seines neuen Buchs fertigstellen.

Es fehlt an Debatten

Die Entwicklungen, vor denen Ali in seinem Buch warnt, sieht er am deutlichsten in seiner Wahlheimat: «Nirgendwo in Westeuropa hat eine sozialdemokratische Partei so bereitwillig und vollumfänglich vor den Forderungen eines deregulierten Kapitalismus kapituliert.»

In seinem geräumigen Wohnzimmer mit Blick auf den Garten erläutert er, weshalb die Politik speziell im englischen Teil Britanniens so rechtslastig ist: «Wir hatten schon lange keine grundsätzliche Debatte mehr über die Art von Gesellschaft, die wir wollen.» In Schottland sei das anders: «Dort fand diese Diskussion in den vergangenen Jahren statt, quer durch die Bevölkerung, und sie hat die Leute politisiert.» In England gebe es auch keine linke Alternative zu Labour. In Schottland dagegen betreibt die Scottish National Party eine erfolgreiche linke Politik. Darum hat Ali auch die Schlappe von Labour bei den britischen Unterhauswahlen vom 7. Mai nicht besonders überrascht: «Sie konnten schlicht nichts Neues bieten. Wann immer Labour die Konservativen angriff, etwa in Bezug auf Sozialpolitik oder Privatisierungen, sagten die Tories: ‹Aber ihr habt damit angefangen, wir machen nur damit weiter, womit ihr begonnen habt.› Und sie hatten recht.»

Ali hat als Journalist, Aktivist und Filmemacher die politischen Umwälzungen der vergangenen fünfzig Jahre aus der Nähe verfolgt. Er lernte dabei Politiker, Aktivistinnen und AkademikerInnen auf der ganzen Welt kennen: von Malcolm X über Bertrand Russell, John Lennon und Edward Said bis zu Hugo Chávez.

An der Basis beginnen

Seine Erfahrung stimmt ihn angesichts der heutigen Situation vorsichtig optimistisch: «Die Linke ist im Moment dabei, sich zu erneuern. Diesen Prozess können wir sowohl in Lateinamerika beobachten als auch im Mittelmeerraum und in Teilen Nordeuropas wie beispielsweise Schottland oder Irland, wo gegen die Wasserprivatisierung protestiert wird.» Selbstverständlich seien dies keine revolutionären Bewegungen – die Revolution ist laut Ali «eine Million Jahre entfernt», und die linken Regierungen in Venezuela, Bolivien oder Griechenland seien sich dessen bewusst. Dennoch hätten sie eine wichtige Funktion: «Sie stellen den Neoliberalismus infrage und schaffen damit einen neuen Raum für linke Politik.» Entscheidend für den künftigen Erfolg der Linken sei, dass der Prozess der Erneuerung an der Basis beginne. «Man muss mit den Leuten reden, man muss versuchen, sie zu überzeugen» – etwa davon, dass das Finanzkapital viel stärker reguliert werden müsse. Es gelte, Bewegungen aufzubauen: «Syriza und Podemos haben viele Leute für ihre Politik gewonnen, die zuvor nicht politisch waren – eine völlig neue Schicht von Leuten, die diese Parteien als einen Bruch mit der Vergangenheit sehen.»

In England scheint dieser Prozess noch weit weg. Die Demonstration vom 20. Juni, bei der Zehntausende in London und anderen Städten gegen die Austeritätspolitik auf die Strasse gingen, hält er zwar für wichtig, aber er bezweifelt, dass derartige Proteste eine neue Politik einleiten können: «Es sind rituelle Demonstrationen, bei denen weitgehend die gleichen Leute marschieren – Teile der Labour-Partei, eine Reihe von Gewerkschaften, dazu die radikale Linke, die winzig ist. Die Leute hingegen, die nicht wählen, die eine Wut haben auf die Politik der extremen Mitte, bleiben zu Hause. Diese Menschen zu mobilisieren, ist extrem wichtig – und in Spanien und in Griechenland geschieht zurzeit genau das.»

In Britannien wird ein solcher Prozess auch dadurch erschwert, dass die radikale Linke hier so zersplittert ist wie kaum sonst wo. Ali war ab 1968 zwölf Jahre lang Mitglied der trotzkistischen International Marxist Group. Diese Form der politischen Organisation hält er heute für völlig diskreditiert: «Der Virus der trotzkistischen Gruppierungen ist in diesem Land besonders verbreitet. Es gibt Dutzende davon – es ist einfach erbärmlich! Niemand hört ihnen zu – wem nützen sie denn ausser sich selbst?» Die rigiden, quasireligiösen Definitionen von Marxismus oder Leninismus seien bedeutungslos und hätten zudem auch ihre Namensgeber genervt, sagt Ali: «Lenin hasste es, wenn sich Leute als Leninisten bezeichneten, für Trotzki gilt dasselbe. Diese Männer hatten einen viel breiteren Horizont und lernten von anderen.» Was es heute brauche, seien breite Organisationen, in denen sich all jene zu Hause fühlten, die sich als links bezeichneten.

Dass Labour zu dieser Organisation werden kann, hält Ali – hier hat er seine Meinung seit den sechziger Jahren nicht geändert – für ausgeschlossen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Linke Jeremy Corbyn, ein alter Freund Alis, zur Wahl als neuer Parteivorsitzender antritt. «Jeremy ist Teil einer Institution, deren Zeit endgültig vorbei ist», meint Ali, und Hoffnungen, dass Corbyn hier einen Unterschied machen könne, seien fehl am Platz: «Ich habe wirklich das Gefühl, dass wir aufhören sollten, uns Illusionen über Labour zu machen. So weiterzumachen wie bisher und nichts Neues aufzubauen, ist eine politische Bankrotterklärung.»