Iran: Crowdfunding für ein Menschenleben

Nr. 35 –

Im Iran können zum Tod Verurteilte der Strafe entkommen, wenn die Angehörigen der Opfer ihnen verzeihen. Eine Organisation sammelt über Facebook Geld, um StraftäterInnen vor dem Galgen zu retten – oft im letzten Augenblick.

Teheran, früher Abend. Kein Schild an dem Haus, zu dem ich bestellt wurde. Drinnen ein gesichtsloser Büroraum; nichts deutet darauf hin, dass hier Aussergewöhnliches geschieht. Zehn junge Erwachsene sitzen um einen lang gestreckten Tisch mit etlichen Laptops. Dies sind die Leute von Imam Ali. Genauer gesagt: der Vorstand der Imam-Ali-Gesellschaft, einer iranischen Wohltätigkeitsorganisation mit 10 000 ehrenamtlichen HelferInnen im ganzen Land. Sie nennen sich nach Ali, dem ersten schiitischen Imam, Cousin des Propheten, weil sie ihn als herausragenden Philanthropen betrachten.

«Wir helfen Bedürftigen und verändern die Gesellschaft durch soziale Aktion», erklärt Zahra Rahimi, die Sprecherin der Imam-Ali-Gesellschaft. Ihr Gesicht ist ungeschminkt, das Kopftuch schlicht unter dem Kinn geknotet. Sie ist Chemikerin; auch die anderen haben naturwissenschaftliche oder technische Berufe; aus diesen Studienzweigen kommen im Iran oft die gesellschaftlich Engagierten. Die Atmosphäre im Raum ist mir gegenüber freundlich, doch von Vorsicht geprägt. Geredet wird über die Sache, über das Anliegen, nicht über Persönliches.

Die Leute von Imam Ali gehen in die Wohnviertel der Armen, geben Strassenkindern Unterricht, kümmern sich um Wohnungslose. Und sie versuchen, junge StraftäterInnen aus der Todeszelle zu holen. In diesem kargen Büroraum werden spektakuläre Kampagnen entworfen, um mithilfe von Facebook Menschen vor dem Galgen zu retten. «Wer im Iran einen Mord begeht, kommt oft aus armen Verhältnissen», sagt Zahra Rahimi. «Deshalb meinen wir, dass die Gesellschaft mitverantwortlich ist für solche Taten. Wir dürfen diese jungen Leute nicht alleinlassen.»

Todesstrafe in der Hand der Opfer

Wie die Rettungskampagnen funktionieren, das versteht man nur Schritt für Schritt. Nach islamischem Recht, wie es im Iran angewendet wird, haben im Fall von Totschlag und Mord die Angehörigen des Opfers das letzte Wort. Verzeihen sie dem Täter oder der Täterin, meist gegen Zahlung einer Entschädigung, dann zieht sich der Staat zurück und lässt die Todesstrafe fallen. Hier setzen die Leute von Imam Ali an. Bisher haben sie 25 Menschen vor dem Galgen bewahrt, manchmal in letzter Minute.

So war es im Fall von Safar Anghouti. Seine Geschichte führt in eine Welt von Drogen, Stress und Aggression, sie führt auf die dunkle Seite der iranischen Gesellschaft, geprägt von Armut und Perspektivlosigkeit. In dieser Welt verstricken sich immer wieder junge Männer unversehens in tödliche Streite.

Safar war siebzehn, als er in einem Kampf mit einem Rivalen aus dem Quartier diesen mit einem Messer schwer verletzte, der Mann verblutete. Safar wurde zum Tod verurteilt und sah fast sieben Jahre lang seiner Hinrichtung entgegen. Währenddessen besuchten AktivistInnen der Imam-Ali-Gesellschaft die Eltern des Opfers, um sie zum Verzeihen zu bewegen. Sie kamen immer wieder, tranken geduldig viele Gläser Tee, redeten. Als sich die Mutter endlich zur Vergebung durchrang, war die Hinrichtung bereits zum dritten Mal anberaumt. Binnen einer Woche mussten Safars Eltern nun die Entschädigung aufbringen, eine Summe von umgerechnet über 48 000 Franken.

Die Imam-Ali-Leute kreierten dafür auf Facebook einen Event: Wer der virtuellen Einladung folgte, sollte umgerechnet etwas über zwei Franken spenden. Binnen weniger Tage beteiligten sich 22 900 IranerInnen. Crowdfunding, um ein Leben zu retten: Dabei ist Facebook offiziell immer noch verboten – eine der vielen Paradoxien der Islamischen Republik.

Safar, mittlerweile 24, ist nun frei. Sein glatt rasiertes Gesicht unter dem Baseballcap wirkt eher sanft. Er war ein Schulabbrecher, hat wenig Bildung, benutzt nicht einmal das Internet, mit dessen Hilfe er gerettet wurde. Seine Familie musste in eine andere Stadt umziehen; das war Teil der Vereinbarung mit den Angehörigen des Opfers: Safar sollte ihnen nie mehr unter die Augen kommen. Er arbeitet nun auf einer Baustelle; die Kollegen kennen seine Vergangenheit.

Unbehagen in der Mittelschicht

Safar kamen zwei Entwicklungen in der iranischen Gesellschaft zugute: Die sozialen Medien sind längst nicht mehr nur Werkzeug politischer DissidentInnen, sondern in der Mittelschicht ein vielfach genutztes Mittel sozialer Verständigung. Und gerade in der Mittelschicht, die im Iran recht gross ist, wächst das Unbehagen an der Todesstrafe. «Die Haltung der Öffentlichkeit hat sich geändert», sagt Zahra Rahimi. «Eine Mehrheit ist gegen die Hinrichtungen, sie mögen die Gewalt einfach nicht.» In das Unbehagen spielt Nationalstolz hinein: Viele gebildete IranerInnen möchten in den Augen der Welt nicht mehr als das Volk mit der – nach China – zweithöchsten Hinrichtungsrate gelten.

Gleichwohl hat die Zahl der Exekutionen seit dem Amtsantritt des gemässigten Präsidenten Hassan Rohani noch zugenommen: Im Jahr 2014 waren es 753, nach Zählung der Vereinten Nationen, und allein bis zum 15. Juli dieses Jahres schon 694, so Amnesty International. Rohani hat auf die Justiz keinen Einfluss; sie ist von der Verfassung her unabhängig und agiert oft als konservative Gegenspielerin des Präsidenten. So ist das Thema Todesstrafe eines der Felder, auf denen sich das gegenwärtige Kräftemessen zeigt: zwischen den verschiedenen Fraktionen im Machtapparat, aber auch zwischen einem Teil der Gesellschaft und den Herrschenden.

Auch die Justiz ist kein monolithischer Block. Deshalb kämpfen die Imam-Ali-Leute in einem Dickicht von Erlaubtem und Verbotenem, von staatlich Gewolltem und Bekämpftem um das Leben der TodeskandidatInnen.

In Safars Fall wurde die Hinrichtung mehrfach aufgeschoben: Die Justiz reagiert auf derartige Kampagnen, verfolgt sie sogar selbst auf Facebook, Verbot hin oder her. Einerseits mögen es die Richter nicht, wenn sich die Zivilgesellschaft in juristische Belange einmischt; andererseits empfiehlt auch der Koran Vergebung, und die Richter müssen den beteiligten Familien dafür ausreichend Zeit geben.

Sofern Mord und Totschlag nicht mit einem anderen Delikt, etwa Drogenschmuggel, einhergehen, gelten sie im Iran als ziviles Unrecht, nicht als ein Verstoss gegen staatliches Recht. Es handelt sich also um eine Angelegenheit zwischen TäterInnen und Opfern. Die Angehörigen Letzterer haben ein Anrecht auf Vergeltung: Gleiches mit Gleichem, Leben gegen Leben. Der Staat verhängt die Todesstrafe nur als Stellvertreter der Opferseite. Wenn diese verzeiht, ist die Rolle des Staats beendet.

Der Wert eines Menschenlebens wurde allerdings im Islam immer hoch angesetzt: Nach einer Weisung des Propheten sollte die Entschädigung, das sogenannte Blutgeld, bei fahrlässigem Totschlag damals hundert Kamele betragen. Was diese Weisung im 21. Jahrhundert bedeutet, teilt die Justiz den Betroffenen mit. Doch am Ende entscheiden die Verhandlungen der Familien von Täter und Opfer, wie viel wirklich gezahlt wird. Eine iranische Zeitung beziffert die Spanne auf umgerechnet 17 000 bis 150 000 Franken.

Engmaschige Überwachung

Von der Imam-Ali-Gesellschaft sind keine politischen Kommentare zum iranischen Rechtssystem zu hören, jedenfalls nicht öffentlich. Aber die AktivistInnen zeigen durch ihre Taten, dass ihnen das Prinzip «Auge um Auge» fremd ist. Unter dem früheren Staatspräsidenten Mahmud Ahmadinedschad durfte die Organisation eine Weile nicht tätig sein. Zahra Rahimi erwähnt das mir gegenüber nicht. Mit Repression diskret umgehen, das ist ihre Linie. Manchmal ruft die Cyberpolizei an und moniert ein besonders aufsehenerregendes Posting auf der Facebook-Seite. So engmaschig ist die Überwachung. Rahimi schweigt auf die Frage, ob sie dann der Aufforderung der Cyberpolizei Folge leiste und den Eintrag entferne.

Die Imam-Ali-Gesellschaft entstand 1999 als studentisches Projekt, um SchülerInnen aus benachteiligten Familien zu helfen. Aus dieser Anfangszeit rührt die Bezeichnung «Studentenvereinigung gegen Armut», doch ist die Gruppe längst über das studentische Milieu hinausgewachsen. Sie zählt heute zu den ältesten unabhängigen nichtstaatlichen Organisationen des Iran – und sie verkörpert eine Zivilgesellschaft, wie man sie im Westen kaum kennt: religiös, aber nicht im Sinn des Staatsislam.

Werte und Prinzipien sind in einer Charta festgeschrieben, als Leitfaden für die 10 000 Ehrenamtlichen. Ganz oben steht: «der Glaube an Gott». Es folgt: Freiheit für alle religiösen Auffassungen; Gleichstellung aller Menschen unabhängig von Ethnie und Geschlecht, Gewaltlosigkeit, Altruismus.

Nach westlichen Kriterien verbindet sich bei den Imam-Ali-Leuten Sozialarbeit mit Wohltätigkeit und gesellschaftlichem Aktivismus. Schwerkranken besorgen sie auf verschlungenen Wegen aus dem Ausland Medikamente, die wegen der Sanktionen nicht erhältlich sind. An einem Ende der Aktionsskala stehen die Kampagnen gegen Hinrichtungen, am anderen Ende Rugbyturniere für Mädchen. Unter den gegebenen Umständen für die Schwächsten der Gesellschaft das Beste herausholen – und dadurch die Gesellschaft selbst verändern. Vergebung, sagen die Imam-Ali-Leute, sei dabei eine spirituelle Kraft: «Vergebung ist das Licht, in dem alle Schönheit der Welt sichtbar wird.»

Mikrokosmos eines besseren Iran

An einem der nächsten Tage begleite ich einen Aktivisten. Nima Mokhtarian ist 25, studiert Computer-Engineering; ein magerer, agiler Typ, über der Schulter der Riemen eines abgewetzten Rucksacks. Wir fahren durch den Teheraner Stau Richtung Südosten in ein ärmeres Wohngebiet. Die Imam-Ali-Leute haben hier ein «Iranisches Haus» eingerichtet, eine Zuflucht für Strassenkinder, darunter afghanische Flüchtlingskinder. 31 solcher Häuser gibt es im ganzen Land; sie heissen so, weil sie ein Modell für jene Werte sind, denen die ganze Nation folgen sollte.

Das Haus ist nicht leicht zu finden, wieder gibt es kein Schild. Drinnen riecht es nach Gemüse mit Zimt, auf einem Gasherd brodelt ein grosser Topf Reis. Die Strassenkinder bekommen hier ein warmes Essen und vorher Unterricht in Lesen und Schreiben. Nima verschwindet gleich in einem Nebenraum, wo schon seine Schüler warten, drei afghanische Jugendliche. Sie würden sich vor mir wegen ihres Analphabetismus schämen, sagt Nima, ich solle nicht mit hineinkommen. Er blinzelt kurzsichtig – seine Brille ist am Vortag zerbrochen; den Dienst deswegen nicht anzutreten, kam ihm nicht in den Sinn.

Als ich Nima später frage, wie viele Wochenstunden er für Imam-Ali-Projekte arbeitet, antwortet er: «Acht Stunden am Tag! Das alles beschäftigt mich permanent. Nur so habe ich das Gefühl, dass meine Existenz einen Sinn hat.» Die Gruppe ist für ihn der Mikrokosmos eines besseren Iran, eine ethische Heimat. Die Ablehnung des Materialismus, der in der Islamischen Republik immer mehr um sich greift, schafft unter den Leuten von Imam Ali eine enge Verbundenheit. Sie sind wie Verschworene. Hier entstehen auch Liebesbeziehungen, werden Ehen gestiftet.

Nach dem Essen nimmt Nima seinen Rucksack und geht mit mir zum Haus eines Mordopfers. Es ist sein zweiter Besuch bei der Familie.

Eine helle Eisentür in einer Seitenstrasse. Eine Frau öffnet, die Mutter des Opfers; sie öffnet die Tür nur halb, ich spüre ihre Abwehr, halte mich im Hintergrund, um die Situation nicht zusätzlich mit meiner Anwesenheit zu belasten. Die Frau ist etwa vierzig, ungeschminkt, sie geht auf Strümpfen, das Kopftuch lässt einen Mittelscheitel erkennen. Ihr Mann sei tot, hatte Nima mir gesagt, ein Sohn sitzt wegen Drogendelikten im Gefängnis, ein anderer ist in einer Entzugsklinik, und auch die Tochter ist abhängig. Eine von Drogen geschlagene Familie. Und dann noch ein Sohn ermordet, im Strassenkampf.

«Er war der Beste», sagt die Mutter, während sie weiter die halb geöffnete Eisentür festhält. Nima zieht sanft, fast unmerklich von der anderen Seite, um den Raum für Dialog ein wenig zu weiten. Die Frau bittet uns nicht hinein. Erst müsse ihr ältester Sohn aus der Haft entlassen werden, sagt sie, vorher wolle sie nichts entscheiden.

Nima war schon mit ihr im Gefängnis, half ihr, den Sohn besuchen zu können. Vertrauen aufbauen, so heisst diese Phase. Vielleicht sogar diesen Sohn vorzeitig aus der Haft herausbekommen, damit die Mutter bereit ist, den Mord an ihrem anderen Sohn zu vergeben. Ich begreife in diesem Moment, wie komplex Nimas Aufgabe ist. Und welche Verantwortung! Selbst erst 25, kann er womöglich das Leben eines Gleichaltrigen retten, wenn er nur geschickt und ausdauernd genug ist. Dies ist sein erster Fall. Später wird ihm ein erfahrener Campaigner zur Seite stehen. Aber erst muss es ihm gelingen, den Prozess anzuschieben.

Heute kommt er nicht weit; die Frau bleibt abwehrend, zieht die Eisentür langsam zu. Nima tritt vom Hauseingang zurück, geht ein paar Schritte zur Seite, wartet, behält die Tür im Blick. Vielleicht überlegt es sich die Frau noch anders? Keine Chance darf vertan werden, nicht die geringste. Auf dem Rückweg zum «Iranischen Haus» wirkt Nima bedrückt. Die Familie des Täters habe schon ihre Wohnung verkauft, sagt er, um das Blutgeld aufzubringen, wolle ihr Angebot sogar noch weiter erhöhen. «Aber wir zögern. Es wäre falsch, dieser Mutter nur durch die schiere Menge des Geldes einen Gnadenakt abzukaufen. Denn das Geld fliesst in einen Drogenhaushalt. Wir haben auch Verantwortung für die Folgen unseres Handelns.»

Drogen aus Afghanistan

Die Drogenplage im Iran ist mit der hohen Zahl von Hinrichtungen eng verknüpft. Mehr als zwei Millionen IranerInnen sind süchtig nach Heroin und anderen Opiaten. Auf Drogenhandel und -schmuggel steht ab einer bestimmten Menge obligatorisch die Todesstrafe, doch die vielen Exekutionen wirken anscheinend kaum abschreckend. Solange der Iran von Inflation und Wirtschaftskrise heimgesucht wird, haben Drogen einen guten Markt, und aus Afghanistan kommt ständig billiger Nachschub. An der Wirksamkeit der Todesstrafe äussern nun erstmals hochrangige Juristen des Regimes Zweifel. Die Empathie der Öffentlichkeit gilt indes eher den jungen Affekttätern; das Mitgefühl mit Drogenhändlern oder auch Vergewaltigern ist gering.

Rejhaneh Dschabbari war ein Fall, der viel Empathie erregte, im Iran wie im Ausland. Und doch konnten die Leute von Imam Ali sie nicht retten.

Rejhaneh hatte mit neunzehn Jahren einen Mann, der sie anscheinend vergewaltigen wollte, durch einen Messerstich tödlich verletzt. War es wirklich Notwehr oder doch ein nachträglicher Racheakt? Für die Imam-Ali-Campaigner war der Fall rechtlich nicht so eindeutig wie später für die ausländischen UnterstützerInnen von Rejhaneh, doch setzten sie alles daran, die Studentin vor dem Galgen zu bewahren. Die Familie des Getöteten verweigerte von Beginn an jeden Gedanken an Gnade. «Wir wollten sie dafür nicht öffentlich verurteilen, sondern indirekt auf sie einwirken», sagt Zahra Rahimi.

Also drehten die Imam-Ali-Leute Videoclips und stellten sie auf Facebook online: Eltern von Ermordeten, die selbst verziehen hatten, appellierten mit bewegenden Worten an die Witwe. Überzeugung durch Beispiel, durch Vorbild. «Was wir konnten, kannst du auch – überwinde deinen Hass.»

Aufseiten der UnterstützerInnen fällt mir eine Frau auf; wer ihr Gesicht einmal gesehen hat, wird es nicht vergessen. Sie kam als kleines Mädchen mit dem Giftgas in Berührung, das die Truppen von Saddam Hussein während des iranisch-irakischen Kriegs einsetzten. Heute ist sie 31, durch die Verätzungen entstellt und blind. Und gerade sie, von Inhumanität gezeichnet, ist eine treue Botschafterin der Humanität, bei allen Kampagnen gegen Hinrichtungen dabei. Im Fall Rejhaneh ging sie sogar zum Haus der Witwe; ihr wurde nicht geöffnet. Um die Tragweite dieser Szene zu verstehen, muss man wissen, dass den Giftgasopfern im Iran gewöhnlich höchster Respekt entgegengebracht wird. Die Blinde wandte sich dann per Video an die Witwe. Und die Witwe sah sich den Film an, diesen und auch die anderen.

48 000 IranerInnen unterstützten auf den Facebook-Seiten der Imam-Ali-Gesellschaft den Slogan «Gib Rejhaneh das Leben zurück». Tausende machten das «Save Reyhaneh»-Symbol zu ihrem Profilbild. Eine Fussballmannschaft von Strassenkindern appellierte mit einem Lied an die Witwe. Alles blieb vergeblich.

Hinrichtungen von Frauen sind im Iran selten; meist werden sie beschuldigt, ihren Mann getötet zu haben. Im Fall Rejhaneh verschob die Justiz unter dem Eindruck der Kampagne mehrfach den Termin der Exekution; ein Gnadenakt wäre ihr wohl recht gewesen. Aus Sicht des Auslands wirkte alles indes ganz anders: Die westlichen Appelle richteten sich an Ali Chamenei, die höchste geistliche und politische Instanz, an die Justiz, an die iranischen Botschafter. Doch das waren die falschen Adressaten. Laut Gesetz kann selbst Chamenei in einem Vergeltungsfall nicht begnadigen, solange die Opferfamilie nicht verzeiht.

Wer den Iran ausschliesslich als Unrechtsstaat betrachtet, sieht in Chamenei einen allmächtigen Führer, der die Entscheidung hätte an sich reissen können – zumal die Familie des Getöteten regimenah war, mit dem Geheimdienst verbandelt. Aber der Iran ist komplizierter.

Politische Häftlinge werden oft heimlich exekutiert, ohne Wissen ihrer Familien. Bei den zivilen Vergeltungsfällen wird hingegen die Verwandtschaft eine Weile vor dem anberaumten Termin benachrichtigt – damit sie einen letzten Versuch unternehmen kann, die Angehörigen des Opfers umzustimmen. Kommt es zur Exekution, muss ein Vertreter der Opferseite anwesend sein – denn der Staat handelt ja in ihrem Auftrag. Die Angehörigen haben sogar das Recht, den Stuhl umzustossen, auf dem der Delinquent unter dem Galgen steht.

Eine dramatische Wende

Wenn ein Sohn oder eine Tochter ermordet wurde, entscheidet vom Gesetz her der Vater über einen Gnadenakt. Tatsächlich liegt das letzte Wort jedoch meist bei der Mutter. Wenn ihr Schmerz so tief ist, dass ihr die Vergebung nicht gelingt, wird das von der ganzen Familie akzeptiert. So war es im Fall von Samareh Alinedschad, einer Mutter in einer Stadt am Kaspischen Meer; sie kannte den Mörder ihres Sohnes persönlich, konnte ihm sieben Jahre lang nicht vergeben. Am Abend vor der Hinrichtung versammelte sich die Verwandtschaft in ihrem Haus; niemand versuchte mehr, die Mutter umzustimmen.

Und dann, am nächsten Morgen, eine dramatische Wende. Im Gefängnishof tat Frau Alinedschad, was sie selbst überraschte. Als dem Täter der Strick um den Hals gelegt wurde, stieg sie die Stufen hoch zum Podest des Henkers, schlug dem jungen Mann, dessen Augen hinter einer schwarzen Binde verborgen waren, mit aller Kraft ins Gesicht und bat dann ihren Mann, den Strick von seinem Hals zu entfernen.

Die Mutter des Beinahe-Gehenkten fiel ihr weinend in die Arme, warf sich dann auf den Boden, um Frau Alinedschad die Füsse zu küssen, eine alte persische Geste, um Respekt und Dankbarkeit zu bezeugen.

Das Foto der sich umarmenden Mütter wurde von sämtlichen iranischen Medien verbreitet. Frau Alinedschad, die Hausfrau vom Kaspischen Meer, wurde populär, ein Symbol für Mitmenschlichkeit. Das Rachegefühl, sagte sie später, habe sie in jenem entscheidenden Moment verlassen. «Ich bin nun im Frieden mit mir selbst.» Ihr Beispiel machte Schule; die Zahl der abgesagten Hinrichtungen stieg an. Mehrfach berichteten Mütter anschliessend, der tote Sohn sei ihnen im Traum erschienen und habe sie gebeten zu verzeihen.

Da war noch eine weitere spektakuläre Szene, die viele IranerInnen bewegte. Bei einer öffentlichen Hinrichtung in der Hauptstadt Teheran legte der junge Delinquent vor der Hinrichtung weinend seinen Kopf an die Schulter des Henkers. So wird es jedenfalls erzählt. Auch er stammte aus armen Verhältnissen, hatte einen Mann tödlich verletzt, der ihn bei einem Diebstahl überraschte.

Manche verzeihen erst, wenn der letzte Moment schon überschritten ist, wenn der Delinquent bereits einen Moment stranguliert wurde und halberstickt den Tod gekostet hat.

Das Geld, das den Gnadenakt leichter machen soll, sammeln die Imam-Ali-Leute nicht nur über Facebook, sondern ab und an auch auf Veranstaltungen.

In einer Videoaufnahme eines solchen Fundraising-Anlasses sehe ich einen Saal mit Klappstühlen, vielleicht ein früherer Kinosaal. Eine Bühne, dahinter ein rostroter Vorhang, die Nationalflagge und einige Poster. Auf der Bühne stehen Stühle, es nehmen Angehörige von Opfern und TäterInnen Platz; sie alle haben früher vergeben oder Vergebung erfahren. Ich sehe auf der Bühne auch die Blinde mit ihrem von Giftgas entstellten Gesicht.

Eine ältere Frau tritt nun ans Mikrofon. Sie ist so klein, dass ihr blasses Gesicht kaum über das Pult ragt. «Ich bin eine Mutter, und mein Kind starb ohne Grund …», sie bricht ab, schliesst die Augen und legt den Kopf vor Schmerz in den Nacken. «Aber ich habe verziehen.» Jemand kommt von der Seite und stützt sie. «Bebachschid», sagt sie leise, ihre Tränen entschuldigend.

Niemand im Saal ist modisch gekleidet; hier sitzen einfache Leute in konservativer Aufmachung. Die Männer tragen Grau oder Schwarz, die Frauen meist Schwarz, sie kommen im Mantel mit Kopftuch oder im Tschador. Dann wird Geld eingesammelt. Die Namen der SpenderInnen und die Höhe ihrer Gabe werden am Mikrofon verlesen, gefolgt jeweils von einem «Dank dem Allmächtigen».