Max Beauvoir (1936–2015): Der Hohepriester des Vodou

Nr. 39 –

Er gab den Schwarzen, den Armen, den BettlerInnen eine Stimme und wusste: Haiti kann sich nur retten, wenn es sich auf seine afrikanischen Wurzeln besinnt.

Max Beauvoir (†), Biochemiker, Priester

Er wohnte in Mariani, im Südwesten von Port-au-Prince; dort, wo Haitis laute und chaotische Hauptstadt langsam ins Ländliche ausfranst. Man sass draussen im Garten unter alten Mangobäumen. Im hohen Gras staksten schwarze Hühner, und unwillkürlich dachte man: Eines davon wird die Zeremonie der nächsten Nacht nicht überleben. Eine im Trommelwirbel zuckende Tänzerin wird ihm bei lebendigem Leib den Kopf abbeissen und sich und die anderen Tanzenden mit dem herausspritzenden Blut besudeln.

Kein böses Piksen

Max Beauvoir konnte herzlich lachen, wenn man ihm solche Visionen gestand. Er griff dann nach der Marlboro-Schachtel auf dem Tisch, zündete die nächste Zigarette an und sagte: «Das mag durchaus geschehen.» Dann lächelte er freundlich und lehnte sich in seinem Plastikstuhl zurück. «Aber es zeigt auch, dass das, was du von Vodou zu wissen glaubst, von dem bestimmt ist, was Hollywood daraus gemacht hat.» Ein Schreckensszenario der Hexerei, in böser Absicht in Puppen gepikste Nadeln, durch die Nacht reitende Leichen, Zombies, die aus den Gräbern steigen. «Alles Humbug, der erfunden wurde, um uns als hinterwäldlerisches Volk zu brandmarken, als gefährlich, gewalttätig und ungebildet.» Das Voodoo Hollywoods ist ein bösartiges Zerrbild. Vodou aber, wie es im haitianischen Kreol richtig geschrieben wird, ist eine ernsthafte Religion – und Max Beauvoir war ihr oberster Priester. Am 12. September ist er im Alter von 79 Jahren gestorben.

Haiti besteht bis heute aus zwei Welten. Da gibt es die schmale Elite, keine fünf Prozent der Bevölkerung, die Französisch spricht, westlich denkt, zur Kirche geht, das Land beherrscht und es ausnimmt. Ihr wichtigstes Merkmal ist die hellere Haut. Man sollte nicht meinen, dass dies in der ersten schwarzen Republik der Welt eine Rolle spielen dürfe. Aber HaitianerInnen können Dutzende von Abstufungen zwischen Braun und Schwarz benennen. Schwarz sind die meisten, und das bedeutet in dieser Skala: arm sein und ohne Bildung. Es bedeutet, Kreol zu sprechen, das aus den kolonialen und den westafrikanischen Sprachen der SklavInnen auf den Zuckerrohrplantagen zusammengewürfelte Idiom. Und es bedeutet, an Vodou zu glauben, das seine Wurzeln in der Heimat dieser SklavInnen hat: in den Dörfern von Westafrika.

Vodou ist eine monotheistische Religion, die ihre Gottheit so weit in den Himmel gehoben hat, dass sie nur noch so etwas wie das Prinzip des Guten ist und nicht zürnend und strafend wie der christliche Gott. Zwischen Mensch und Gottheit gibt es einen Pantheon von rund 400 Geisterwesen. Der Priester kann sie herbeirufen, die Gläubigen können von ihnen besessen werden.

Max Beauvoir war in beiden Welten Haitis zu Hause. Als Sohn eines Arztes hat er in New York und an der Pariser Sorbonne studiert und kam 1973 als Biochemiker zurück. Er hatte ein Patent angemeldet für eine Methode, wie Cortison aus der Sisalagave gewonnen werden kann, und war dabei, ein Labor aufzubauen. Da hat ihn sein Grossvater, ein Vodou-Priester, auf dem Sterbebett zu seinem Nachfolger bestimmt. Beauvoir nahm die Herausforderung an. Zwei Jahre danach fühlte er sich zum ersten Mal von einem Geist besessen.

Vodou ist eine rebellische Religion. Schon der Sklavenaufstand von 1791 wurde über geheime Vodou-Zeremonien organisiert. Auch Beauvoir hatte stets Schwierigkeiten mit den Herrschenden. Vor dem Zorn des Diktators Jean-Claude Duvalier, von dem er eine Politik für die Armen eingefordert hatte, schützte ihn nur sein Status als prominenter Priester. Mit dem zunächst linken Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, einem glühenden ehemaligen katholischen Priester, krachte er zusammen. Von dessen AnhängerInnen bekam er Todesdrohungen, sodass er für ein paar Jahre in die USA ins Exil ging. Seit 2008 der nationale Verband der Vodou-Priester gegründet wurde, war er der Vorsitzende. In ihm hatten die Schwarzen, die Armen, die BettlerInnen eine Stimme.

Westlicher Staat, afrikanische Struktur

Beauvoir konnte den über zwei Jahrhunderte aufgestauten Frust der Vodou-Gemeinden artikulieren und so Gewaltausbrüche verhindern, von denen die haitianische Geschichte so oft überwältigt wurde. «Wir leben in einem westlichen Staat mit einer westlichen Regierung», sagte er. «Und doch sind wir ein Land mit afrikanischer Sozialstruktur, in dem alles Denken und Handeln von Vodou bestimmt sind.» Das war für ihn der grundsätzliche Widerspruch. Erst wenn Haiti zu sich selbst finde, wenn es stolz sei auf seine afrikanischen Wurzeln und auf seine Religion, könne es sich selber helfen. Für dieses Ziel hat Max Beauvoir gelebt.