Atomkrieg 2.0: Demokratisierung des roten Knopfs
Einst fürchtete sich die Schweiz vor einem Atomkrieg. Alle bekamen einen Platz in einem Schutzbunker zugeteilt. Und für jeden und jede gab es Überlebensnahrung für drei Tage. Anfang der neunziger Jahre hatte die Überlebensnahrung ihr Verfallsdatum erreicht und wurde an Spitäler und Waisenhäuser des «ehemaligen Ostblocks» verschenkt.
Inzwischen fürchtet sich kaum mehr jemand vor einem Atomkrieg. Das ist ein Fehler. Letzte Woche berichteten deutsche Medien, die US-Regierung sei daran, die Atomwaffen im Fliegerhorst Büchel südlich von Bonn zu erneuern.
Deutschland hat den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet, doch als Mitglied des nordatlantischen Militärbündnisses Nato ist das Land zur sogenannten «nuklearen Teilhabe» verpflichtet. Deshalb lernen in Büchel deutsche PilotInnen, Einsätze mit nuklearen Sprengköpfen zu fliegen. Und das ist auch der Grund, warum in in Büchel nukleare Sprengköpfe eingelagert sind.
Was heute droht, ist anders als der alte Kalte Krieg. Heute wird gerüstet für den Atomkrieg 2.0, der neuen Regeln folgt.
Wenn das «Web 2.0» als Begriff dafür steht, dass sich alle im Netz beteiligen können und Hierarchien neu geordnet werden, mag das prickelnd sein. Bei Atomwaffen hingegen ist die Demokratisierung des roten Knopfs tödlich.
Die Logik des atomaren Wettrüstens basierte darauf, dass nur zwei, drei mächtige Individuen Zugriff auf den roten Knopf hatten. Alle wussten, dass der US-Präsident mit seinen Atombomben in der Lage war, die wichtigen Zentren der Sowjetunion binnen zehn Minuten auszulöschen. Der US-Präsident wusste aber auch, dass dem Kremlchef diese zehn Minuten reichten, um seinen roten Knopf zu drücken und den Westen niederzumachen. Beide wussten, wie gefährlich es war, den Gegner in die Ecke zu treiben.
Der Atomkrieg 2.0 sieht anders aus. Mini-Nukes dominieren die neue Doktrin: kleine, taktische Atomwaffen, die gezielt gegen «Terroristen» eingesetzt werden können. Mit ihnen liessen sich zum Beispiel unterirdische Anlagen – Fabriken oder militärische Stützpunkte – zerstören. Gleich einem chirurgischen Eingriff, der die Zivilbevölkerung nicht betreffen werde, argumentieren die Militärs. In Büchel sollen solche Mini-Nukes stationiert werden.
Hergestellt werden die neuen Atomwaffen nicht mehr in staatlichen Fabriken, sondern von privaten Konzernen, die sich die nötigen Mittel unter anderem auf dem globalen Finanzmarkt beschaffen. Da spielt auch die Schweiz eine Rolle. Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen listet in ihrem letzten Report «Don’t Bank on the Bomb» diverse Schweizer Firmen auf, die Beteiligungen an Rüstungsfirmen halten. Mit 3,7 Milliarden US-Dollar ist die UBS am stärksten involviert, gefolgt von der Credit Suisse mit 1,4 Milliarden. Mit kleineren Beträgen sind auch der Rückversicherer Swiss Re und Swisscanto, eine Tochterfirma der Zürcher Kantonalbank (ZKB), dabei. Die ZKB betont, sie halte die Beteiligungen «im Auftrag von Kunden». Reicht das als Entschuldigung?
«Wir befinden uns an einem gefährlichen Scheideweg», konstatiert der kanadische Wirtschaftsprofessor und Rüstungsexperte Michel Chossudovsky, der auch regelmässig für «Le Monde diplomatique» schreibt. Die Welt sei viel gefährlicher geworden, weil der Zugriff auf die Nuklearwaffen liberalisiert worden sei. «Die neue Doktrin geht davon aus, dass Kommando, Kontrolle und Koordination eines Nuklearwaffeneinsatzes ‹flexibel› sein müssen. Kommandeure eines Kampfeinsatzes sollen die Möglichkeit haben, selber zu entscheiden, wann und wo sie Atomwaffen gebrauchen», sagt Chossudovsky.
Damit wächst der irrige Glaube, man könne auf lokalem Niveau einen begrenzten kleinen Atomkrieg führen. Jeder begonnene Krieg hat aber das Potenzial, gross zu werden. Und Atomkriege haben kein Ende. Wenn die Bomben gefallen sind, droht ein nuklearer Winter. Staub und Asche steigen in die Atmosphäre, verdunkeln den Himmel, das Klima kühlt sich ab, es wächst nichts mehr, Hungersnöte breiten sich aus. Ein bisschen Atomkrieg geht so wenig wie ein bisschen tot sein.