Russland–Schweiz: Das Imperium der Möwen
Eine Enthüllung russischer AktivistInnen rückt die Familie des Generalstaatsanwalts ins Zentrum. Die Vorwürfe reichen von Korruption und Raub bis Geldwäscherei. Auch die Schweiz spielt eine Rolle.
Als die Vorwürfe gegen ihn die Runde machen, sitzt Artjom Tschaika (zu Deutsch: Möwe) vermutlich gerade am Pool seines Luxushotels an der griechischen Mittelmeerküste. Oder trinkt Tee auf dem Balkon seines Schweizer Anwesens mit Blick auf den Genfersee. Die Enthüllung, in deren Zentrum sich der vierzigjährige Russe an diesem Tag wiederfindet, könnte sich zu einem Skandal entwickeln. Es geht darin um ein weitverzweigtes Imperium, um mehrere Unternehmen, pompöse Villen und luxuriöse Hotels. Es geht darin auch um die Frage, wie sich in Russland heute viel Geld verdienen lässt. Und es geht um das glamouröse Leben zweier Brüder, das (zumindest teilweise) durch die Position ihres Vaters wohl erst ermöglicht wurde.
Am 1. Dezember publiziert die Moskauer Stiftung zur Korruptionsbekämpfung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny ein umfangreiches Dossier. Zeitgleich erscheint in der oppositionellen «Nowaja Gaseta» eine akribisch zusammengestellte Recherche mit dem Titel «Klanwerte». Gegenstand beider Untersuchungen ist das Firmennetzwerk von Artjom und Igor, den beiden Söhnen von Russlands Generalstaatsanwalt Juri Tschaika, und dessen Entstehung. Die Vorwürfe reichen von Korruption über Raub bis zu Schutzgelderpressung. Dass sie Konsequenzen haben, daran glaubt nicht einmal Enthüller Nawalny: «Das System ist unbesiegbar, weil es von denjenigen geschaffen wurde, die diese Verbrechen eigentlich bestrafen sollten», sagt er im Video, das zusammen mit dem Dossier veröffentlicht wurde (vgl. «Eine revolutionäre Recherche» im Anschluss an diesen Text).
Eine Villa mit Seeblick
Glaubt man den Recherchen, erwarb Artjom Tschaika 2014 in der beschaulichen Gemeinde Coppet am Ufer des Genfersees eine Villa im Wert von knapp 2,8 Millionen Franken. Zugleich soll sich der Name des Ehepaars Tschaika auf dem Klingelschild eines prunklosen Zweifamilienhauses im Nachbarort Founex befinden. Diese Adresse nutze die Familie für ihre Korrespondenz mit den Schweizer Behörden, so die Antikorruptionsstiftung.
Die Schweiz zu ihrem Lebensmittelpunkt zu küren, scheint ein lang gehegter Wunsch des Ehepaars Tschaika gewesen zu sein. Zumindest soll es vor mehr als zehn Jahren ein Konto bei einer Schweizer Bank eröffnet haben. Und zwischen der Schweiz und dem erfolgreichen Jungunternehmer mit dem markanten Schnauz besteht eine weitere Verbindung. So ist Tschaika gemäss Handelsregisterauszug seit Mai 2015 Miteigentümer der juristischen Beratungsfirma FT Conseils in Lausanne, vorher hatten die Anteile seinem jüngeren Bruder Igor gehört. Als Geschäftsführer aufgeführt ist der Schweizer François Tharin. War dieser früher Leiter des kantonalen Migrationsamts in der Waadt, bietet er heute laut Unternehmenswebsite diverse Dienstleistungen an – von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen über Firmengründungen bis zum Immobilienhandel. Tharin präsentiert sich als Anwalt mit langjähriger Erfahrung in der Verwaltung. Und wirbt mit dem Slogan «Effizienz – Vertrauen – Diskretion».
In den Unterlagen der russischen AktivistInnen findet sich auch der Name einer weiteren Schweizer Firma: der Genfer Kanzlei Juridical House SA. Ihre Lausanner Zweigstelle befindet sich nur wenige Gehminuten von FT Conseils entfernt. Auch hier bestehen offenbar Verbindungen nach Russland. Laut Handelsregistereintrag hat früher der Politiker und Sohn des Exgeschäftsführers der russischen Staatsanwaltschaft die Firma geleitet. 2003 hat der Schweizer René Kurth einen Sitz im Verwaltungsrat übernommen. Er soll – so die Vorwürfe – das Familienvermögen der Tschaikas verwalten. Beim Branchendienst Moneyhouse finden sich auf den Namen des Aargauers 59 Verwaltungsratssitze, 18 Sitze in der Geschäftsleitung und die Zeichnungsberechtigung für 85 Firmen.
Eine Zusammenfassung der Vorwürfe mit Schweizer Bezug findet sich in einem Schreiben, das Nawalnys Organisation am 8. Dezember der Bundesanwaltschaft und der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) überbrachte. Artjom Tschaika soll über die Schweiz Geld gewaschen sowie seine Aufenthaltsgenehmigung durch Betrug erworben haben, heisst es darin. Auf Anfrage bestätigt die Bundesanwaltschaft den Erhalt des Schreibens. Die darin enthaltenen Vorwürfe werde man eingehend prüfen. François Tharin liess eine Anfrage bis Redaktionsschluss unbeantwortet. René Kurth war für die WOZ nicht erreichbar. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung.
Das Granatapfelhotel
Ob Artjom Tschaika nun am Genfersee lebt oder in Moskau – wo er laut Nawalnys Stiftung häufig gesehen wird –, lässt sich nicht abschliessend klären. Möglich ist auch ein ganz anderer Wohnort: die nordgriechische Halbinsel Chalkidiki. Hier spielt eine weitere Episode im Kriminaldrama um die Familie der Möwen.
Am 1. Mai 2014 feiert eine illustre Gesellschaft in Chalkidiki ein rauschendes Fest. Namhafte PolitikerInnen, verschwiegene Milliardäre und prominente Showgrössen sind aus Russland angereist, um die Eröffnung des Fünfsternehotels Pomegranate Wellness Spa zu feiern, des Granatapfelhotels. ZauberkünstlerInnen führen ihre Tricks vor, buntes Feuerwerk erleuchtet den Nachthimmel. Während einer Lasershow wird eine riesige russische Flagge an die Hotelwand projiziert. Der russische Kulturminister hält eine Rede, die lokalen Medien berichten ausführlich über die Festlichkeiten. Und zeigen Fotos der beiden HotelbesitzerInnen Artjom Tschaika und Olga Lopatina – Letztere ist die Exfrau von Juri Tschaikas Stellvertreter.
Die Verbindung der Familie Tschaika nach Griechenland beginnt ein paar Jahre früher. 2013 soll Artjom laut der Nawalny-Recherche eine Villa erworben haben – mit Blick auf den «heiligen Berg» Athos. Wie wichtig dieser Ort für die Familie ist, hatte Vater Juri in mehreren Interviews erklärt: Er komme jedes Jahr hierher, um «geistig aufzutanken» und «klarer sehen zu können, was im Leben wirklich wertvoll ist». Im Mai 2015 kommt dann laut Recherchen der «Nowaja Gaseta» eine weitere Immobilie in der Nähe hinzu: das Viersternehotel Potidea Palace.
Geschäfte mit der Mafia
Gleich nebenan soll auch Olga Lopatina, die zweite Besitzerin des Granatapfelhotels, eine geräumige Villa mit Marmorinventar besitzen. Das nötige Kleingeld für solch kostspielige Investitionen hat die 52-Jährige – so die Vorwürfe von Nawalnys Stiftung – im Zuckerbusiness verdient. Die Geschäfte soll sie wiederum zusammen mit den Ehefrauen zweier Mafiosi geführt haben. Als Köpfe der sogenannten Zapok-Bande hatten die Männer eine Region im Süden Russlands jahrelang beherrscht – bis sie nach dem Mord an zwölf Personen im Jahr 2010 schliesslich verurteilt wurden. Weitere Anteile von Lopatinas Unternehmen sollen der Ehefrau eines Beamten der Staatsanwaltschaft gehören. Dieser war zurückgetreten, nachdem Vorwürfe über Verbindungen zur Mafia publik geworden waren. 2010 wurden auch Artjom Tschaika Verflechtungen mit dem organisierten Verbrechen nachgesagt: Als in Moskau ein Netz illegaler Casinos aufflog, ermittelten die Behörden gegen ihn, stellten die Untersuchung später jedoch ein.
Artjom Tschaikas Reichtum stammt aus vielen Quellen: aus einer Schiffswerft, Salzbergwerken, Sandgruben, Baufirmen und einigen mehr. Die Antikorruptionsstiftung schätzt den Gesamtwert der Unternehmen auf Hunderte Millionen US-Dollar. Mehrere Firmen soll der Unternehmer auf dubiose Weise übernommen haben. Auch Bruder Igor ist mittels so lukrativer wie undurchsichtiger Aufträge zu Geld gekommen. Beide sollen ihre steilen Karrieren Vater Juri verdanken. Der Hauptvorwurf von Nawalnys Stiftung: Die Söhne des Generalstaatsanwalts hätten eine Reihe von Unternehmen gekapert – mithilfe der Untergebenen ihres Vaters, die die Augen vor kriminellen Machenschaften verschlossen oder selbst beteiligt waren. Stimmen die Vorwürfe, wäre das eine Ironie sondergleichen: Die Söhne von Russlands oberstem Verbrecherjäger übernehmen Firmen und verschieben Geld ins Ausland, wobei sie die Schweiz möglicherweise als Steueroase nutzen, inklusive Aufenthaltsrecht –, der Vater verfolgt derweil in Russland unliebsame nichtstaatliche Organisationen (NGOs) als «ausländische Agenten».
«Ein Kriminaldrama»
Während die Schweizer Behörden die Vorwürfe gegen Artjom Tschaika prüfen, wird in Russland selbst kein Verfahren eröffnet. Die Staatsanwaltschaft fühle sich nicht zuständig, lässt sie der Stiftung mitteilen. Auch die restlichen Reaktionen fielen bescheiden aus: Präsident Putins Sprecher tat den Fall als «uninteressant» ab. Ministerpräsident Dmitri Medwedew verglich Nawalnys Kampagne mit Stalins Denunzierungen in den dreissiger Jahren. Und Juri Tschaika veröffentlichte einen Brief, in dem er auf die Vorwürfe mit keinem Wort einging – und stattdessen über eine von den USA gesteuerte Verschwörung spekulierte.
Dass die Enthüllungen dennoch Beachtung fanden, zeigt ein kleiner Akt des zivilen Ungehorsams. Unbekannte hängten in Moskau vorübergehend fiktive Theaterplakate auf, die den Fall Tschaika karikieren. «Tschaika – ein Kriminaldrama in fünf Akten» heisst es in Anlehnung an ein gleichnamiges Stück des russischen Schriftstellers Anton Tschechow. In den Hauptrollen des fiktiven Stücks: Igor und Artjom Tschaika, Olga Lopatina und ihr Ehemann sowie die Frauen der beiden Köpfe der Zapok-Bande. Angekündigt wird auch ein Monolog von Juri Tschaika. Das Thema: «Warum Möwen nicht in den Knast kommen».
Die Enthüllerinnen : Eine revolutionäre Recherche
Ein kitschiger Sonnenaufgang am Meer. Musik wie aus einem Fantasy-Videospiel. Dann: Bilder einer luxuriösen Hotelanlage. So beginnt das 45-minütige Video, das die Recherche der Moskauer Stiftung zur Korruptionsbekämpfung begleitet. Über vier Millionen Mal wurde es seit der Publikation auf Youtube angeklickt. Die Organisation erzählt darin die Geschichte der Familie Tschaika und ihrer Verbündeten, die ProtagonistInnen und vielfältigen Verflechtungen ins Zentrum rückend. Die dazugehörige Website ist aufwendig gestaltet. Die AktivistInnen präsentieren alle vorhandenen Dokumente, leiten ihre Recherche akkurat her. Handelsregisterauszüge und Kaufverträge finden sich hier, zudem Aufnahmen von Google Street View oder Ergebnisse von Onlinerecherchen. Sämtliche Dokumente lassen sich via Dropbox herunterladen und somit überprüfen.
Seit 2011 dokumentiert Alexej Nawalnys spendenfinanzierte Non-Profit-Organisation die staatliche Korruption in Russland. Umstritten ist dabei ihre politische Motivation. Denn neben seiner Tätigkeit als Antikorruptionskämpfer und Blogger ist Nawalny auch Politiker, zumal noch eine Führungsfigur der Opposition. Er stand nach der Parlamentswahl 2011 an der Spitze einer Protestbewegung, kandidierte 2013 für das Moskauer Bürgermeisteramt.
Die aktuelle Recherche ist derweil so brisant wie revolutionär. Sie greift auf frei zugängliche Daten zu, funktioniert also nach der Logik des Internets. So ist auch das Schreiben einsehbar, das die Antikorruptionsstiftung an die Bundesanwaltschaft schickte. Eigenen Angaben zufolge haben die AktivistInnen in der Schweiz eine «zweite Front im juristischen Kampf gegen die Tschaikas» eröffnet: Weil sie von Russlands Justiz keine Aufklärung erwarten, wenden sie sich an die Schweizer Behörden. Nawalny selbst ist mit dem russischen Justizwesen bestens vertraut. Dreimal kam der Jurist damit in Berührung: 2013 wurde er wegen Veruntreuung zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt, später setzten die Behörden seine Haft auf Bewährung aus. 2014 musste Bruder Oleg nach einem weiteren Verfahren ins Gefängnis, während Nawalny erneut auf Bewährung freikam. Alle Prozesse gelten als politisch motiviert.
Anna Jikhareva
Nachtrag vom 31. März 2016 : Die Möwen fliegen weiter
Hat Artjom Tschaika, Sohn des russischen Generalstaatsanwalts, in der Schweiz Geld gewaschen? Diesen Vorwurf hatte die Antikorruptionsstiftung um den russischen Blogger Alexei Nawalny erhoben. In einem umfangreichen Dossier, das Nawalny der Bundesanwaltschaft (BA) im Dezember überstellte, ging es um die Machenschaften der Familie Tschaika und um ein riesiges Firmenimperium, das womöglich nicht ganz legal errichtet wurde.
Inzwischen hat die BA alle Vorwürfe gegen Artjom Tschaika zurückgewiesen. Man habe die Anzeige untersucht, lässt die Behörde auf Anfrage mitteilen. Der Straftatbestand der Geldwäscherei sei eindeutig nicht erfüllt. Wie die Abklärungen abliefen – darüber hüllt sich die BA in Schweigen. Ein Rechtshilfegesuch an Russland habe man jedenfalls nicht gestellt. Da Artjom Tschaika, der in einer luxuriösen Villa am Genfersee residiert, sein Geld jedoch in Russland erwirtschaftete, müssten entsprechende Abklärungen auch dort vorgenommen werden – was sich als schwierig erwiesen haben dürfte, zumal Chefankläger Juri Tschaika, als Vater des Verdächtigen, selbst involviert ist. Umso wichtiger wäre es zu erfahren, was genau die BA untersucht hat.
Ähnlich sieht es auch Nawalny. Ohne russische Unterstützung seien der Schweiz die Hände gebunden, schrieb er am Montag auf seinem Blog. Zugleich gab sich der Aktivist kämpferisch: «Wir werden unsere Arbeit in der Schweiz fortführen», verkündete er.
Anna Jikhareva