Russische Kohle in Appenzell: «Aber über den rede ich nicht»
Von der Ära Jelzin bis heute: Im Schatten der grossen Rohstoffhandelsplätze macht auch die Ostschweizer Provinz Geschäfte mit russischen Oligarchen. Begann alles mit einem grossen Betrug?

In Meistersrüte bei Appenzell weht vor einem weissen Bürogebäude im Einfamilienhausstil eine Fahne mit der Aufschrift «Ardnas Consulting». Ardnas wie Sandra rückwärts. Sandra Graf öffnet die Tür ihres Treuhandbüros in einem Pullover mit dem Glitzeraufdruck «Love more». Sie habe doch schon den anderen Journalisten gesagt, dass sie keine Auskunft gebe, sagt sie zuerst. Im Herbst 2022 hatte das Kulturmagazin «Saiten» über Verbindungen der russischen Kohleindustrie in der Ostschweiz berichtet. Dann überlegt Graf es sich überraschenderweise anders. Es sei ja vielleicht gut, einmal Klarheit zu schaffen. «Ist doch eh alles kalter Kafi.»
Sandra Graf führt nicht nur ein Treuhandbüro, sie ist auch Komanagerin von MIR Trade mit Sitz in Teufen, Appenzell Ausserrhoden, dem Handelsarm des russischen Kohlegiganten SDS-Ugol. Und was die Frau mit dem Glitzerpullover als «kalten Kaffee» bezeichnet, ist nicht nur die Geschichte ihres Aufstiegs. Es ist auch die Geschichte einer Gegend, die sich im Schatten der grossen Rohstoffhandelsplätze Zug, Genf oder Lugano an den Wirtschaftstätigkeiten der russischen Oligarchen mit bereichert hat.
Operation Spinnennetz
Die Geschichte beginnt Ende der achtziger Jahre. Die UdSSR bricht zusammen, der Westen baut Handelsbeziehungen nach Russland auf. Von der Stadt St. Gallen aus ist zu diesem Zeitpunkt ein Mann namens Yousef Sherkati dabei, gemeinsam mit anderen Unternehmern ein Firmenimperium im Transport- und Logistikbereich aufzubauen. Der Iraner expandiert vor allem in den vorderasiatischen Raum. Schon zu Beginn des Zerfalls der Sowjetunion wittert Sherkati neue Geschäftsmöglichkeiten: 1989 gründet seine Unternehmensgruppe in Kooperation mit der Sowjetischen Eisenbahn die Firma Transrail. Deren offizieller Zweck ist die Vermarktung von russischen Gütertransportdienstleistungen ausserhalb des sowjetischen Staatsgebiets. Nach dem Ende der UdSSR geht die Hälfte der Transrail-Aktien an den Nachfolger der Sowjetbahnen – die Russischen Eisenbahnen – über.
Während Sherkati in St. Gallen sein Imperium aufbaut, versinkt Russland in den neunziger Jahren unter der verordneten marktwirtschaftlichen Schocktherapie im Chaos – das nicht Wohlstand für viele hervorbringt, sondern eine neue Klasse von Oligarchen, die das Staatseigentum unter sich aufteilen und ihren Reichtum ins Ausland transferieren. Auch über den Standort St. Gallen?
Davon ist zumindest die Antimafiabehörde in Bologna überzeugt, als sie 2002 die «Operation Spinnennetz» initiiert und in ganz Europa Ermittler:innen losschickt, um einen Schlag gegen die «Russenmafia» zu landen. Bei der Aktion werden auch die Büros von Sherkatis Transinvest-Gruppe durchsucht, denn die Bologneser Staatsanwaltschaft ist Anfang der nuller Jahre davon überzeugt, dass über die Tochterfirma Transrail in den neunziger Jahren die riesige Summe von insgesamt sieben Milliarden US-Dollar unterschlagen worden war. Die italienischen Behörden werfen den Verantwortlichen der Transinvest-Tochter vor, man habe Gewinne nicht ausgewiesen – und so den staatlichen russischen Miteigentümer, die Russischen Eisenbahnen, um Anteile geprellt.
Transinvest und Russland
Das Transportkonglomerat Transinvest mit Hauptsitz in St. Gallen ist heute ein Geflecht aus Firmen und Tochterfirmen in zahlreichen Ländern. Angesichts der russischen Invasion in die Ukraine fragt sich: Welche Verbindungen hat das Unternehmen heute zum russischen Regime?
Auffällig ist, dass die von EU-Sanktionen betroffenen Russischen Eisenbahnen noch immer an der weitgehend stillgelegten Tochterfirma Transrail beteiligt sind. Die russischen Aktionär:innen hätten der Liquidierung des Unternehmens nicht zugestimmt, schreibt Transinvest-Geschäftsführer Yousef Sherkati – ohne zu begründen, weshalb.
Die Transinvest-Gruppe hält zudem Beteiligungen an einer Firma in Belarus, die letztes Jahr von einem belarusischen Oppositionsmedium beschuldigt wurde, russische Nuklearwaffen transportiert zu haben. Sherkati bestreitet dies vehement. Zudem würden diese Firmenanteile derzeit veräussert.
Russischer Eisenbahnminister ist zur fraglichen Zeit Nikolai Aksenenko, ein enger Vertrauter von Boris Beresowski, einem der einflussreichsten Oligarchen der Ära Jelzin. Die italienischen Ermittler:innen sind sich 2002 sicher: Das System Transrail wurde von ganz oben initiiert – und der Oligarch Beresowski war der Kopf eines ganzen Geldwäschereinetzwerks. Auf dem russischen Rechercheportal «Kompromat» heisst es in einem Artikel aus dem Jahr 2006: «Beresowski persönlich war es, der das Eisenbahnministerium über Aksenenko kontrollierte. Und es war Beresowski selbst, der das System Transrail vorschlug.»
Die Büros der Transinvest-Gruppe befinden sich heute am unteren Ende des St. Galler Reichenhügels Rosenberg in einem herrschaftlichen Jugendstilgebäude, umgeben von einem Park mit Steingarten; eine verrostete Eisenplastik prangt vor der Stadtsicht. Ein guter Ort, um sich Fragen zu stellen: Wer war Nikolaos Makourin, der 1994 Direktor der Transrail wurde und bis zu seinem Tod vor zwei Jahren in St. Gallen lebte? War er tatsächlich der Berater des Eisenbahnministers Aksenenko, wie es auf «Kompromat» ebenfalls heisst? Warum eröffneten die Schweizer Untersuchungsbehörden vor zwanzig Jahren kein Strafverfahren gegen die Leitung von Transinvest?
Es lägen dafür nicht genug Anhaltspunkte vor, die die italienischen Ermittlungsergebnisse stützten, liess man damals verlauten. Heute verweist die St. Galler Staatsanwaltschaft an Genf, das die Schweizer «Spinnennetz»-Ermittlungen koordinierte. Die Genfer Staatsanwaltschaft schreibt auf die Frage, weshalb sie damals das Verfahren eingestellt habe: «Wir stellen diese Art von Informationen nicht zur Verfügung.» Später stoppte das Bundesgericht auch ein Rechtshilfeverfahren der Bundesanwaltschaft – mit der Begründung, das entsprechende Rechtshilfegesuch aus Russland sei unverständlich, und es gebe keinerlei Hinweise auf Betrug.
Firmengründer Yousef Sherkati schreibt auf Nachfrage zu den Vorwürfen: «Im Zeitraum von Makourins Tätigkeiten für unsere Gruppe gab es seitens der Behörden einen Verdacht; das Verfahren wurde aber ergebnislos eingestellt.» Und: «Nikolaos Makourin war ein ehemaliger Angestellter der sowjetischen Eisenbahnen, den wir 1994 als erfahrenen Eisenbahnexperten einstellten. Eine frühere Beratertätigkeit für den genannten ehemaligen Eisenbahnminister ist uns nicht bekannt.»
«Über den rede ich nicht»
Viel Aufsehen erregten die Ermittlungen gegen Transrail in der Schweiz nicht. Die Firma jedoch wurde nach den Hausdurchsuchungen nach und nach weitgehend stillgelegt, einige ihrer Geschäftstätigkeiten in andere Transinvest-Firmen überführt. Im Protokoll der Transrail-Generalversammlung des Jahres 2002 wird über «eine strittige Summe von 529,5 Millionen Franken zwischen Transrail und dem russischen Eisenbahnministerium» informiert. «Diese vorhandene Diskrepanz schadet sowohl dem Image von Transrail als auch dem russischen Eisenbahnministerium.» Sherkati behauptet: Man habe daraufhin eine Arbeitsgruppe eingesetzt, und «die strittige Summe hat sich nicht bestätigt».
Makourin schied 2006 «wegen unterschiedlicher Vorstellungen der Weiterentwicklung der Firmengruppe» aus dem Unternehmen aus, schreibt Sherkati (vgl. «Transinvest und Russland»). Dass er in der Ostschweiz eine Art Drehscheibe für Russlandverbindungen gewesen sein dürfte, zeigt ein Blick ins Handelsregister: 1999 gründete er in St. Gallen eine Zweigniederlassung des Russischen Verbands der Industriellen und Unternehmer. Und im Umfeld der Transinvest-Gruppe entstanden ab Mitte der neunziger bis in die frühen nuller Jahr zahlreiche Handels- und Investmentfirmen mit Namen wie Coal Invest, Korowo Trading, Olgi Holding, Mega Alliance, Siberian Vodka oder Temir Trans. Letztere wird in den Bologneser Ermittlungsakten ausdrücklich der Geldwäsche verdächtigt.
Die Frage, die im Raum steht: Woher kam das Geld dafür? Floss damals schmutziges Geld in diese russischen Handelsfirmen? Geld, das eben doch über Transrail dem russischen Staat gestohlen worden war?
Bei vielen der Firmen, von denen heute die Mehrheit nicht mehr aktiv ist, war Nikolaos Makourin zumindest zeitweise selbst Verwaltungsrat. Auch Transinvest-Gründer Sherkati, der bis vor ein paar Jahren auch im Verwaltungsrat der Bank Alpinum in Liechtenstein sass, die mehrfach wegen Betrugsfällen in die Schlagzeilen geriet, war bei einer der vielen Firmen involviert. Und auch sein Schwiegersohn, der Treuhänder Peter Andreas Cott, war bei einigen Konstrukten beteiligt. Doch zwei Namen finden sich noch häufiger: jener eines gewissen Anton Stadler – und der von Sandra Graf.
Sandra Grafs Büro ist mit mintgrünen Lederstühlen und Gummibaumpflanzen ausgestattet, die Wände schmücken expressionistische Bilder des Alpsteins. Graf beruhigt ihren bellenden Hund, tischt Kaffee auf und erzählt ihre Version der Geschichte. Sie habe als Anton Stadlers Assistentin angefangen, sagt sie. «Als kleine Sekretärin, ganz klassisch.» Stadler sei der Wirtschaftsjurist im Vordergrund gewesen, sie im Hintergrund tätig. «Aber wir sind zusammen gewachsen. Ich habe mich weitergebildet, immer mehr Aufgaben übernommen und schliesslich den administrativen Bereich des Büros mit einigen Mitarbeitern geführt.»
Alles deutet darauf hin, dass der inzwischen pensionierte Wirtschaftsjurist Stadler Makourin ab Ende der achtziger Jahre bei seinen Geschäftstätigkeiten beriet. Graf, die seit einigen Jahren ihr eigenes Treuhandbüro führt, sagt: Ja, sie kenne Makourin. «Aber über den rede ich nicht.» Alles, was sie sagen könne, sei, dass man für gewisse Firmen, die Handel mit russischen Waren betrieben hätten, ganz gewöhnliche treuhänderische Dienstleistungen erbracht habe. «Das waren ganz normale Ausland-Ausland-Geschäfte.»
Auf Fragen nach diesen Russlandverbindungen reagiert sie genervt: Sie verstehe wirklich nicht, warum man die Geschichte nun aufrolle. «Man wollte doch diese Geschäftsbeziehungen damals, das war völlig normal.» Stadler habe für die Firmen den Steuerbereich und die Buchhaltung übernommen. «Für die Buchhaltung war ich zuständig. Herr Stadler hat oft in Verwaltungsräten Einsitz genommen, weil es damals für hier ansässige Firmen noch einen Schweizer Verwaltungsrat brauchte.»
Woher kam das Geld, das in die Firmen floss? Das hätten sie nicht zu beurteilen gehabt, sagt Graf. Wie viele der Firmen wurden direkt von Nikolaos Makourin gegründet und gesteuert? Graf sagt, mit den Gründungsprozessen habe sie nichts zu tun gehabt. «Und selbst wenn ich es gewusst hätte, könnte ich mich nach all den Jahren definitiv nicht mehr im Detail daran erinnern, wer welche Firma gegründet oder nach der Gründung an wen verkauft hat.» Stadler sei ein extrem seriöser, gesetzestreuer Wirtschaftsjurist gewesen. Einer, dem nicht nur die Russen vertraut hätten, sondern eben auch sie. «Und die, das muss man schon sagen, waren sehr misstrauisch.» Sie wiederum habe die Buchhaltung dieser Firmen samt Zahlungsverkehr immer penibel geführt. «Ich habe auf jeder Quittung bestanden und kann Ihnen versichern, dass das normale Handelsfirmen waren und alles korrekt lief.»
Die Kohlefirmen
Als Wladimir Putin im Jahr 2000 zum ersten Mal russischer Präsident wurde, entmachtete er viele Oligarchen aus der Jelzin-Ära. Die St. Galler Clique um Makourin scheint damals den Machtwechsel unbeschadet überstanden zu haben; die Kontakte zur Machtelite in Moskau rissen jedenfalls nicht ab.
Im Gegenteil. In der Ära des Machtwechsels entstanden in der Ostschweiz zwei Kohlefirmen – die beiden grössten Handelsfirmen mit Bezug zu Makourin. Sie wurden offiziell durch Anton Stadler gegründet. Und an beiden Firmen hielt auch das Transportkonglomerat Transinvest zeitweise Anteile. Die eine, der Kohlehändler Krutrade, war von 1998 bis 2005 in Appenzell ansässig – und handelte die Kohle des Unternehmens Kuzbassrazrezugol des Oligarchen und Putin-Getreuen Andrei Bokarew. Im Jahr 2000 gründete Stadler in Appenzell dann die Kohlehandelsfirma MIR Trade, als Handelsarm des drittgrössten russischen Kohleförderers SDS (Sibirskiy Delowoy Soyuz). Gründer von SDS waren die Putin-nahen Oligarchen Michail Fedjaew und Wladimir Gridin, der 2021 seine Anteile an Fedjaew verkaufte. Gridin sass einst für Putins Partei Einiges Russland im russischen Parlament. Aktuell ist Fedjaews Sohn Pawel Fedjaew Abgeordneter und für seine Unterstützung des Krieges gegen die Ukraine mit internationalen Sanktionen belegt. Sein Vater wiederum sass wegen eines Grubenunglücks mit 51 Toten in der sibirischen Listwjaschnaja-Mine von Dezember 2021 bis Ende Juli 2022 im Gefängnis.
Graf erzählt in ihrem Büro, sie und ihr ehemaliger Chef Anton Stadler hätten MIR Trade von der Gründung bis im Jahr 2012 in gewohnter Arbeitsteilung betreut. Dann sei es zu Konflikten mit Makourin gekommen, der von 2006 bis 2016 im Verwaltungsrat sass, und man habe das Mandat niedergelegt. 2016 aber kehrte Graf zu MIR Trade zurück, nun mit mehr Verantwortung: «Ich habe auf Anfrage ein Beratungsmandat zur Neuorganisation der Finanzabteilung angenommen.»
MIR Trade machte bis zu Putins Einmarsch in die Ukraine zwischen eineinhalb und zwei Milliarden Franken Umsatz pro Jahr. Über die Streitigkeiten mit Makourin will die Treuhänderin nichts weiter sagen. Vielleicht hatten sie mit Offshorekonten zu tun. Der WOZ liegen firmeninterne Dokumente vor, die nahelegen, dass das Unternehmen in Konflikt mit den Steuerbehörden geriet. Im Jahr 2013 schrieb die Steuerverwaltung Appenzell Ausserrhoden dem Unternehmen: «Die MIR Trade hat teilweise Einkäufe von Kohle und Logistikdienstleistungen über Offshore-Gesellschaften getätigt, bei denen es sich um nahestehende Gesellschaften handeln könnte. Es besteht die Vermutung, dass ein Teil der Marge über diese Gesellschaften abgeschöpft wurde.» Das Steueramt verpflichtete die Firma zu Nachzahlungen für die Jahre 2005 bis 2011.
Die Dokumente machen aber auch deutlich, wie sehr der Kanton Appenzell Ausserrhoden seinen grössten Steuerzahler hofierte: MIR Trade zahlte nach dem Umzug von Appenzell Innerrhoden nach Appenzell Ausserrhoden im Jahr 2012 (und wohl bis zur Abschaffung der Steuerprivilegien für internationale Holdings im Jahr 2019) rekordtiefe 8,3 Prozent Gewinnsteuern.
2013 erteilte Ausserrhoden Juri Fedjaew, dem Sohn von SDS-Mitgründer Michail Fedjaew, eine Aufenthaltsbewilligung. Er wurde von der Firma angestellt und bezog eine Villa am oberen Rosenberg. Für diese kam MIR Trade direkt auf, wie Fedjaews Lohnauszug zeigt. Die Miete für das Haus floss an eine von Stadler und Graf eingetragene Firma, die später von Sherkatis Schwiegersohn Cott als Investmentfirma geführt wurde. Geld von MIR Trade floss auch in verschiedene Immobilien im Ausland: So taucht eine «Villa Hatton» in Cannes in der Buchhaltung auf, im Wert von 21 Millionen Euro, dazu mehrere Häuser im deutschen Baden-Baden.
War die Absicht hinter diesen Transaktionen, möglichst viel Geld am Fiskus vorbeizuschleusen? Graf will diese Vorgänge nicht kommentieren, sagt stattdessen, sie habe immer gesetzeskonform gehandelt. «Und die MIR Trade AG erfüllte unter dem neuen Management sämtliche gesetzlichen Vorgaben.» Das sei durch ordentliche Revisionen, Steuerrevisionen und Revisionen der Sozialversicherungen stets bestätigt worden.
Ein Restaurant und ein Beautysalon
Nicht weit vom St. Galler Hauptbahnhof entfernt liegt das Restaurant Misnik, russisch für «Metzger». Die NZZ schrieb über den Ort: «immer noch dem zu empfehlen, der es bei Fleisch vom Grill krachen lassen will». Das Interieur ist von opulenter Geschmacklosigkeit: An der Wand hängen goldgerahmte, pseudoimpressionistische Gemälde, es gibt Stoffstühle mit Blumenmustern und silbern schimmernde Riesenvasen. Die überfreundliche Bedienung tischt Jakobsmuscheln auf, Ochsenbäggli, Cappuccinodessert. Ein guter Ort, um darüber nachzudenken, wie wenig sichtbare Blüten komplizierte Wirtschaftsgeflechte treiben – und wie leicht es für viele russische Geschäftsleute mit Verbindungen zum Regime noch immer ist, Geld in die Schweiz zu bringen.
Das «Misnik» soll nach einer gut informierten Quelle im Besitz von Sergei Gridin sein, dem Sohn von SDS-Mitgründer Wladimir Gridin, der es dem Betreiberduo verpachtet habe. Ein Indiz dafür: An derselben Adresse wie das Restaurant ist eine Firma gemeldet, die auf den Namen seiner Frau läuft. Das «Misnik» beantwortet die Frage nach den Besitzverhältnissen nicht.
Sergei Gridin besitzt überdies eine Jugendstilvilla am unteren Rosenberg. Eine weitere, sehr unauffällige Spur der St. Galler Kohle- und Eisenbahn-Connection findet sich ausserhalb der Stadt, im «Säntispark». Direkt neben der Wellnesszone der Bäderlandschaft befindet sich der Beautysalon «My beauty home». Die zwei jungen Frauen am weissen Plastiktresen geben keine Auskunft darüber, wer hier die Chefin sei. Doch gemäss Branchenverzeichnis ist die Mitbesitzerin auch hier Sergei Gridins Frau.
Für etwas Wirbel sorgte in der Ostschweiz das Ende der Klinik St. Georg in Goldach am Bodensee im Jahr 2018. Was lief an diesem Ort, den Nikolaos Makourin und einige Mitstreiter:innen – etwa Sherkatis Schwiegersohn Cott – 2012 übernommen hatten? Die MIR Trade AG war Hauptaktionärin der Klinik. 2016 geriet sie mit umstrittenen Stammzellentherapien eines russischen Arztes ins Zwielicht.
Florierender Rohstoffhandel
Seit August 2022 ist der Handel mit russischer Kohle auch in der Schweiz verboten. Für die Treuhänderin Graf kam Putins Invasion der Ukraine zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Denn alles sei gerade einwandfrei gelaufen. MIR Trade habe sich nach ihrer Anstellung aus dem Mutterkonzern gelöst und auch Kohle von anderen Produzenten gehandelt; neue Trader seien in die Ostschweiz gezogen, die Firma habe am Ende zwölf Angestellte gehabt. Kohle werde ja immer verteufelt, sagt Graf. «Wir handelten hochwertige Steinkohle. Die ist umweltfreundlicher als Braunkohle etwa aus Deutschland. Und keiner macht sich Gedanken darüber, dass sie halt einfach noch gebraucht wird, beispielsweise von Kraftwerken und Stahlwerken im asiatischen Raum.»
Gemäss einer kürzlich publizierten Studie der NGO Center for Research on Energy and Clean Air (Crea) musste Russland bisher beim sanktionierten Handel mit Öl und Kohle lediglich eine Einbusse von neunzehn Prozent verkraften. Beim Öl sorgen Schlupflöcher dafür, dass der von der EU beschlossene Preisdeckel umgangen werden kann und der Rohstoff weiter zu Hochpreisen an abnahmewillige Drittländer fliesst. Auch bei der Kohle, die von den Sanktionspartnern weder importiert noch gehandelt werden darf, ist die Lage unübersichtlich – gerade in der Schweiz. Das Land ist einer der Kohlehubs Europas, hat jedoch keine Übersicht darüber, wie viel Kohle vor dem Krieg über den Standort gehandelt wurde. Erst im November letzten Jahres beschloss der Bundesrat, seine jährliche Wertschöpfungsstatistik künftig «auf alle Rohstoffhandelsunternehmen mit mindestens drei Angestellten auszudehnen».
Bei der Umsetzung der Sanktionen setzt das Seco bislang auf Freiwilligkeit. Es gibt keine Aufsichtsbehörde und kaum Kontrollen. Das Staatssekretariat schreibt: Man nutze die Instrumente des Embargogesetzes «wie beispielsweise die Auskunftspflicht oder die Möglichkeiten der nationalen und internationalen Rechtshilfe». Hingegen seien «systematische Datenerhebungen über alle Geschäftsaktivitäten der in der Schweiz ansässigen Rohstoffunternehmen oder die Möglichkeit, Unternehmen zur Schliessung zu zwingen, gesetzlich nicht vorgesehen». Auf Antrag der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats werde derzeit aber untersucht, ob es zusätzliche Massnahmen brauche, «um die Durchsetzung und die Kontrolle von Sanktionen im Rohstoffsektor zu verbessern».
Heisst: Was genau hinter den Fassaden von Unternehmen wie MIR Trade passiert, weiss niemand. Sandra Graf beteuert, die Firma sei nur deshalb immer noch aktiv gemeldet, weil ein Unternehmen dieser Grössenordnung nicht von heute auf morgen liquidiert werden könne.
Handel betreibe man keinen mehr. Die Sanktionen hätten sich schon vor der Übernahme durch die Schweiz ausgewirkt. Banken seien aus dem Geschäft ausgestiegen, europäische Kraftwerke hätten die Kohle nicht mehr abgenommen. «Wir waren abgeschnitten, wirklich komplett abgeschnitten.» Möglich, dass das Geschäft mit der SDS-Kohle längst an irgendeinem Ort der sanktionsfreien Welt getätigt wird. In Dubai? China? Dazu sagt Graf nichts. «Mir ist einfach wichtig zu betonen, dass die MIR Trade weder in der Schweiz noch sonst wo operativ tätig ist.»
Auf die Frage, ob sie nicht spätestens nach Putins Annexion der Krim und der Invasion des Donbas im Jahr 2014 Gewissensbisse gehabt habe, antwortet die Unternehmerin, sie sei total gegen das Regime, klar. «Aber ich habe einfach wahnsinnig Mühe, wenn jetzt ein ganzes Volk verurteilt wird, nur weil Putin diesen Krieg angefangen hat.» Und irgendwann müsse man sich dann ja halt schon fragen, wie der Schweizer Wohlstand noch generiert werden solle. «Russland hat nun mal die Rohstoffe, da können Sie nichts machen, da kann ich nichts machen.»