Start-ups: Noch schnell die Welt verändern
Start-ups entwerfen die Zukunft unter Hochdruck. Sie sehen sich als Rebellen der Wirtschaft, lehren Grosskonzerne das Fürchten und arbeiten dennoch mit ihnen zusammen. Ein Ausflug in die Welt der JungunternehmerInnen.
Daniel Längle, Dominic Böni und Jonas Gartmann sind gut drauf heute Abend. Sie stehen vor dem Impact Hub Zürich, einem sogenannten Coworking Space am Sihlquai. Von drinnen schallt Sambamusik heraus, Weihnachtsparty. «Wenn wir in fünf Jahren weltberühmt sind und Tausende von Menschenleben gerettet haben, kannst du sagen, dass du als erste Journalistin mit uns ein Interview geführt hast!», sagt Gartmann. Die drei Jungunternehmer waren heute auf dem Notariat, um ihre Firma namens Infusion anzumelden. Ihr Baby.
Sie wollen die Welt retten, den Markt erobern, die Wirtschaft umkrempeln. Sie wollen anders arbeiten. Sie brennen für eine Idee und beuten sich aus. Sie sehen sich als radikalen Gegenentwurf zur hierarchischen Konzernwelt und wollen die Arbeit demokratisieren. Sie sind die Daniel Düsentriebs des 21. Jahrhunderts. Willkommen in der Welt der Start-ups.
Von Westen kommt Neues
Die drei Jungunternehmer, die an jenem Freitagabend auf ihre Firmengründung anstossen, sind ein typisches Beispiel. Alles begann mit einer Idee, als die drei noch bei der Firma Sensirion angestellt waren, die Sensoren herstellt. 4. März 2015, Böni und Längle sitzen vor Bönis Computer, um Geschäftsfelder für Sensorik zu suchen. «Das müsste man eigentlich selber machen», sagt Böni. Längle schaut ihn an: «Das machen wir.» Die Idee: Sensorentechnik für medizinische Infusionen entwickeln.
Danach ging es schnell. Böni und Längle kündigten mit dem Segen ihres Chefs, Gartmann hatte bereits auf achtzig Prozent reduziert. Sie kratzten ihre Ersparnisse zusammen, um sich in der Anfangsphase über Wasser zu halten. In dieser Zeit mussten sie einen Prototyp entwickeln – und nach Geldgebern suchen. Das sind die Kernmerkmale eines Start-ups: eine innovative Idee, der Wille der GründerInnen, sie umzusetzen, und das dazu nötige Kleingeld.
Viel Ahnung vom Selbstständigsein hatten die drei nicht. Dafür brachten sie das nötige Fachwissen mit und kannten den Markt, in den sie einsteigen wollen. «Klar machen wir immer wieder Fehler», sagt Böni. Längle ergänzt: «Zum Beispiel sind wir naiv gestartet und haben den Businessplan immer wieder überarbeitet, bis wir merkten, was funktionierte.» Am Anfang waren sie so voller Tatendrang, dass sie am liebsten so schnell wie möglich ein Produkt entwickeln wollten. Bis ihnen ein Coach von der eidgenössischen Kommission für Technologie und Innovation sagte, dass sie als Start-up im Medtech-Bereich zuerst vor allem ein Qualitätsmanagement bräuchten. «Unsere Stärke ist, dass wir auf Fehler reagieren können und daraus lernen», sagt Längle.
Es gehört eine ordentliche Portion Grössenwahn dazu, eine einfache Idee tatsächlich zu einer Firma und zu Geld machen zu wollen. «Du musst 150 Prozent überzeugt sein, dass deine Idee die beste ist», sagt Böni.
«Disruptive Innovation» ist der Fachausdruck für das, was Start-ups machen. Im Gegensatz zur kontinuierlichen Weiterentwicklung bereits bestehender Produkte bedeutet Disruption die Schaffung von etwas ganz Neuem. Etwas, was die Logik des Bestehenden umkrempelt, es verschwinden lässt oder zumindest in ein Nischendasein verbannt. Ein Beispiel, das heute für Kontroversen sorgt, ist das Taxiunternehmen Uber, das derzeit wertvollste Start-up weltweit mit einem geschätzten Wert von 62,5 Milliarden Dollar. Uber unterwandert das Geschäftsmodell von Taxifirmen, indem sich alle auf der Plattform als FahrerInnen anmelden können und direkt mit PassagierInnen verknüpft werden, und macht damit eine ganze Berufsgruppe arbeitslos. Es ist ein Beispiel dafür, wie schnell im digitalen Zeitalter aus einer Idee ein marktbeherrschendes Unternehmen werden kann. Ein anderes Beispiel, wie disruptive Innovation funktioniert, lieferte Larry Page, der Gründer von Google. Auf die Frage, was passiere, wenn das selbstfahrende Auto eine rote Ampel überfahre, antwortete Page: «Es gibt dann keine Ampeln mehr, die es missachten könnte. Wir schaffen auch die Ampeln ab.»
Uber und Google wurden beide im Silicon Valley gegründet. Kein Wunder: In den achtziger Jahren siedelte die US-Regierung hier Firmen an, um in der Rüstungsinnovation die Sowjetunion hinter sich zu lassen; heute, wo auch das Internet schon lange den zivilen Alltag bestimmt, stammen die meisten bahnbrechenden Innovationen im digitalen Bereich aus dem Valley. Böni, der für seinen früheren Arbeitgeber ein halbes Jahr dort gearbeitet hat, beschreibt die Stimmung so: «Im Silicon Valley arbeitet jeder an irgendeiner Idee. Wenn du in eine Bar läufst, kannst du mit jedem Fremden darüber sprechen, und jeder tut es.»
«Die haben keine Ahnung»
Dagegen steckt die Schweizer Venture-Kapital-Szene, also die Finanzierung von Start-ups, noch in den Windeln. «Wenn du in der Schweiz eine Internetsoftwarefirma gründen willst», sagt Leo Keller, «dann solltest du deine Idee möglichst schnell in Projekten zusammen mit etablierten Schweizer Firmen testen, und wenn sie funktionieren, ein Einwegticket ins Silicon Valley buchen.» Keller, der schon 2000 die Firma Netbreeze mitgründete, die 2013 an Microsoft verkauft wurde, und am Positionspapier der SP zur Internetpolitik massgeblich beteiligt war, kennt die Start-up-Szene. Für die Schweiz hat er wenig gute Worte übrig: «Investoren in der Schweiz haben keine Ahnung von Risikokapital. Wenn sie in Ideen von ICT-Start-ups investieren, also Firmen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie, dann mit Knebelverträgen, die das Risiko einseitig den Gründern aufbürden.»
Zwar nimmt die Zahl der Firmengründungen zu. 2014 vermerkte das Handelsregister 41 550 Neueinträge – so viele wie noch nie. Davon sind rund die Hälfte Start-ups. Mittlerweile gibt es auch immer mehr Plattformen, wo Start-ups Geld erhalten können. Insgesamt aber nehme das Risikokapital für ICT-Start-ups in der Schweiz seit 2000 laufend ab, so Keller. Gerade im Raum Zürich haben es die JungunternehmerInnen nicht einfach. Die Lebenskosten sind hoch, billiger Büroraum sehr knapp.
Sarah Siegrist weiss das. Drei Jahre hat sie für ein Start-up gearbeitet – gelebt, müsste man sagen –, nachdem sie nach acht Semestern Architektur- und Bauingenieurstudium an der ETH in die Szene gerutscht war. «Wir hatten sämtliche verfügbaren Adressen der Welt digitalisiert und wollten für jedes Gebäude und jeden Ort eine digitale Kommunikationsplattform erstellen», sagt sie. Paatle hiess die App, die den Austausch zwischen Menschen erleichtern sollte, die sich am selben Ort bewegen und sich für diesen interessieren, aber ansonsten nicht miteinander ins Gespräch kommen würden. Für Paatle arbeitete Siegrist am Ende gratis und bezog dafür sogar einen Teil ihres Erbes vor. Doch das Projekt fand keine Geldgeber. «Investoren in der Schweiz sind zu konservativ», sagt auch Siegrist. «Sie investieren lieber in Häuser als in Ideen, aus denen vielleicht nichts wird.»
Im Zürcher Impact Hub, Teil eines weltweiten Netzwerks von Coworking Spaces, zahlt man als Member monatlich 395 Franken für unbegrenzten Zugang, 550 mit fixem Schreibtisch. Dafür bekommt man einen Ort zum Arbeiten, Internet, Küche mit Kaffee und vor allem Austausch mit anderen, die ebenfalls an ihren Ideen arbeiten. Denn die besten Ergebnisse, so ist man beim Impact Hub überzeugt, entstehen, wenn möglichst unterschiedliche Leute zusammenarbeiten und sich vernetzen. Zu diesem Zweck fusionierte der Impact Hub dieses Jahr mit dem Colab, einem Coworking Space, der vor allem den «Techies» ein Zuhause bot. Der Impact Hub konzentrierte sich früher auf die Förderung von «Social Entrepreneurship» – was man mit «Gutes tun als Geschäftsmodell» umschreiben könnte.
Der Coworking Space am Sihlquai ist bereits der zweite Standort in Zürich. Bei der Pressekonferenz zur Eröffnung im September standen noch Farbeimer und Kabelrollen herum, es wurde gehämmert, gebohrt, gestrichen. «Prototyping the future of business» heisst jetzt der Slogan des Impact Hub. «Wir sind zum Schluss gekommen, wenn wir die Wirtschaft wirklich verändern wollen, müssen wir versuchen, so viele Menschen und Industrien wie möglich zu erreichen», sagt Niels Rot vom Impact Hub. Ihre Vision einer künftigen Wirtschaft: Nicht der Profit ist das oberste Ziel, sondern der Mehrwert, den ein Unternehmen für die Gesellschaft schafft. Auch wenn Geld verdienen natürlich ein Teil davon ist.
Die Zusammenarbeit und Vernetzung des Impact Hub geht bis zu Grosskonzernen: Six-Group, Credit Suisse, Swisscom, Migros-Engagement investieren Geld und schicken MitarbeiterInnen, um im Impact Hub zu arbeiten. «So erfahren sie, wie man auch anders arbeiten könnte», sagt Rot. «Cultural Spillover» nennt er das. Die demokratische Arbeitsweise von Start-ups mit flachen Hierarchien und engem Austausch sollte auch bei Grossfirmen Einzug halten.
Ob sie an der Profitorientierung der Grossfirmen tatsächlich etwas ändern können, sei dahingestellt. Den Grossfirmen geht es ohnehin um etwas anderes: Sie fürchten, von den Innovationen der Jungunternehmen abgehängt zu werden. Darum investieren einige, wie Siemens, in hauseigene Innovationsabteilungen, andere in die Zusammenarbeit mit den Start-ups, um Ideen, die ihr Geschäftsmodell bedrohen, früh genug erkennen und die Start-ups aufkaufen zu können.
Das Sponsorendilemma
Auch Jojo Linder hat Schwierigkeiten, Sponsoren zu finden, jedoch aus anderen Gründen. Zusammen mit ein paar ehemaligen MitstudentInnen entwickelte er eine Komposttoilette und vertreibt sie als Erster serienmässig. «Ich dachte mir, dass es das eigentlich auf jedem Festival geben sollte», sagte er vor einem Jahr in der Sendung «Aeschbacher». Interessierte KundInnen hat seine Firma Kompotoi genug – auch von grossen Open Airs erhält Linder Anfragen. Nur Sponsoren findet er keine. «Für profitorientierte Geldgeber werfen wir zu wenig ab, und Stiftungen wollen uns kein Geld geben, weil wir geschäftlich orientiert sind», sagt er. Dabei sei das schwierig zu umgehen: «Wir verkaufen und vermieten Toiletten – klar ist das ein Geschäft.» Linders Projekt ist eigentlich das beste Beispiel einer Firma, die den Nutzen für die Gesellschaft über den Profit stellt. Dass es ihm so schwerfällt, Geldgeber zu finden, kann ein Indiz dafür sein, dass es eben doch nicht so einfach ist, den Kapitalismus mithilfe seiner eigenen Regeln zu unterwandern.
An jenem Abend, als die Jungunternehmer zu Samba tanzen und einige ihr Projekt mithilfe durchgestylter Powerpoint-Präsentationen unter Stoppuhrdruck wie Werbeprofis vorführen, spielt in der Autonomen Schule Zürich (ASZ) im Gebäude nebenan eine Gruppe kurze Theaterszenen über die kleinen alltäglichen Missverständnisse zwischen den Kulturen. Die ASZ ist seit sechs Wochen im Gebäude neben dem Impact Hub am Sihlquai angesiedelt, für beide ist die Nutzung bis 2018 befristet. Billiger Raum ist rar in Zürich und verschwindet immer mehr. Sowohl die JungunternehmerInnen wie das autonome Bildungsprojekt sind jedoch darauf angewiesen, was die beiden Gruppen unfreiwillig zu Konkurrenten macht.
Die Nachbarschaft am Sihlquai ist dennoch wohlwollend und unkompliziert, wenn auch nur mit wenig Austausch. Die zwei Welten sind zu unterschiedlich. Die Vernetzung der Start-ups ist nicht grenzenlos, sie findet nur innerhalb ihrer geschäftlichen Sphäre statt. Ein geschlossenes System, dessen Erzeugnisse die Welt verändern. Und ein Hinweis darauf, was die Digitalisierung mit unserer Gesellschaft machen wird.