Übergriffe in der Schweiz: Knallhart zwischen die Beine

Nr. 2 –

Auf der Strasse, auf der Tanzfläche – sexuelle Übergriffe im Ausgang sind auch in der Schweiz gang und gäbe.

Die Hände sind immer gleich da. «Man kann nicht auf die Tanzfläche, ohne dass einem sofort jemand von hinten zwischen die Beine greift», sagt Ronja Kocher (Name geändert). «Ein reines Abtasten, immer von hinten, und knallhart zwischen die Beine.»

Kocher ist Anfang zwanzig, wohnt in Zürich, und eigentlich geniesst sie das Nachtleben. Schon mit vierzehn begann sie, mit Freundinnen in Clubs zu gehen. «Niemand hat mich je nach meinem Ausweis gefragt. Wenn du aufgetakelt bist, kommst du überall rein.» Inzwischen ist ihr die Lust aber fast vergangen: «Ich bin jedes Mal total im Selbstverteidigungsmodus. Kürzlich stupfte mich eine Freundin am Arm, weil sie etwas fragen wollte, und ich hätte ihr fast eine gehauen … Oft höre ich auf zu tanzen, weil ich nur noch damit beschäftigt bin, Männern den Ellbogen in den Solarplexus zu rammen.»

Ausgang ist Arbeit

Wer junge Frauen fragt, die Clubs besuchen, hört viele solche Geschichten. Und nicht nur junge: «Die Zürcher Ausgangskultur hat sich extrem verändert», sagt auch Yvonne Kunz. Die 43-Jährige ist seit mehr als zwanzig Jahren im Zürcher Nachtleben unterwegs, arbeitete zeitweise an der Bar im «Kaufleuten». Heute sei es ungemein mühsam, alleine tanzen zu gehen. «Es ist wahrscheinlicher, dass einer von hinten kommt und seinen Penis an meinem Arsch reibt, als dass einer Hallo sagt.» Oft müsse sie sich gegen uralte Klischees wehren: «Nur weil ich sexy tanze, möchte ich noch lange nicht abgeschleppt werden.»

Sie vermisst das Spielerische, Ausgelassene der früheren Zürcher Clubszene. «In den Neunzigern gab es vielfältigere Frauenidentitäten, mehr Möglichkeiten. Heute ist das Frauenbild stereotyp, eine Schablone. Vor zwanzig Jahren war die Szene auch viel schwuler, man sah geschminkte Männer oder Crossdresser. Heute ist die Stimmung machoid. Und es gibt in Clubs eine riesige Lücke zwischen menschlichem Kontakt und sexuellem Kontakt. Es kommt kaum vor, dass ein Mann und eine Frau einfach anfangen, miteinander zu reden, von Mensch zu Mensch. Hauptziel ist es, jemanden abzuschleppen.»

Sexuelle Übergriffe hätten viel mehr mit Macht als mit Sex zu tun, betonen Feministinnen oft. Für erwachsene Täter mag das zutreffen. Aber bei Jugendlichen? Was geschieht, wenn junge Männer mit Machoklischees im Kopf auf junge Frauen treffen, die um jeden Preis als sexy gelten wollen? Schon mit vierzehn sei sie regelmässig betatscht worden, sagt Ronja Kocher. «Damals wusste ich nicht, was ich davon halten sollte. Es ist mühsam, aber irgendwie auch aufregend. Das ist eine sehr feine Grenze, wenn du so jung bist. Wenn du gar nicht weisst, was du machen willst mit deinem Körper, wenn dir Anerkennung wichtig ist – du willst sexy sein, dazugehören. Viele machen mit, weil sie das Gefühl haben, begehrt zu werden. Das will man ja, aber es kann schnell kippen.»

Die Angst, im Ausgang oder beim Sex zu versagen, ist gross – bei Männern wie bei Frauen. Vielleicht ist deshalb die Ausgelassenheit, die Yvonne Kunz so vermisst, aus den Clubs verschwunden: Der Ausgang ist heute Arbeit, Teil der Leistungsgesellschaft. «Wir hatten schon von früher Kindheit an gelernt, dass unsere körperlichen Wünsche nur der unbedeutende Teil unserer sexuellen Entwicklung sind», hat die britische Feministin Laurie Penny, damals 25, in ihrem ersten Buch «Fleischmarkt» geschrieben. «Viel wichtiger für junge Menschen ist die Bildung und Bewahrung von erotischem Kapital.»

Was in den Clubs geschehe, komme ihr manchmal vor wie eine unbeholfene Art, diesen Druck abzulassen, sagt Kocher: «Obwohl es eine Belästigung ist, kann auch die Frau nicht viel falsch machen, wenn sie sich im Club betatschen lässt. Für viele ist es extrem ambivalent. Du willst ja die Frau sein, die die Männer berühren wollen …» Aber wenn etwas so Drastisches passiere wie in Köln, sei es vorbei mit der Ambivalenz. «Dann fühlt sich niemand mehr attraktiv oder begehrt.»

Sexismus ist nie Sexismus allein

Übergriffe im Ausgang seien immer wieder ein Thema, sagt Karin Moos von der Zürcher Frauenberatung Sexuelle Gewalt. Doch junge Frauen, die auf der Tanzfläche betatscht worden seien, hätten sich noch nie gemeldet. Ist das schon zu normal? Die ETH Zürich befragt seit 1999 Fünfzehn- und Sechzehnjährige über Gewalterfahrungen. Die Ergebnisse von 2015 zeigen, dass Gewalt unter Jugendlichen klar zurückgeht – sexuelle Gewalt aber am wenigsten deutlich. Und die Täter werden jünger: Bei sexueller Gewalt gehe die Tendenz «weg vom erwachsenen Täter aus dem familiären Umfeld hin zu gleichaltrigen oder etwas älteren Tätern, die ihre Opfer typischerweise im Ausgang kennen lernen». Nicht selten ist der Partner der Täter: Achtzehn Prozent jener Mädchen, die einen Freund haben, berichten von sexueller Gewalt in der Beziehung.

Die 35-jährige Berner Historikerin und Stadtparlamentarierin Leena Schmitter beschäftigt die Köln-Debatte sehr. Sie finde es unerträglich, wie sexualisierte Gewalt nur als Ausländerproblem dargestellt werde. «Ein Bundesratskandidat kann sich offenbar Witze über K.-o.-Tropfen erlauben, aber wenn ‹Fremde› ‹unsere Frauen› angreifen, wird es ganz ernst. Da werden die Rechten plötzlich zu ‹Frauenverstehern›.» Auch Schmitter hat einiges aus dem Ausgang zu erzählen – von Männern, die sie betatschen wollten und sie mit Steinen bewarfen, als sie sich wehrte. Die ihr Beine und Hände zwischen die Beine schieben wollten, während sie an ihrem Penis hantierten. Auch wenn sie eine Frau küsst, reagieren Unbekannte immer wieder aufdringlich – «Darf ich mitmachen?» – oder aggressiv: «Einmal schlug einer meiner Freundin von hinten auf den Kopf.»

Als Historikerin und Feministin sei sie ein grosser Fan des Slogans «Das Private ist politisch»: «Genau darum geht es: zu zeigen, dass subjektive Erfahrungen Teil eines strukturellen Problems sind.» Darum sei es auch nötig, auf allen Ebenen anzusetzen: persönlich, politisch, juristisch und medial. In einem Vorstoss hat Leena Schmitter kostenlose Selbstverteidigungskurse in den Berner Quartierzentren gefordert, sie möchte Beratungsstellen und die schulische Bildungsarbeit für Jungen und Mädchen stärken und besser finanzieren. «Ich habe an einem Lehrmittel gegen sexualisierte Gewalt mitgearbeitet, das zusammen mit einem Theaterstück in die Schulen kam. Das Lehrmittel gibt es noch, aber das Theaterstück ist den Sparmassnahmen zum Opfer gefallen …»

Sexismus sei nie Sexismus allein: «Das Alter, die Religion, die Herkunft, die sexuelle Orientierung spielen immer auch hinein. Es sind verschiedene Machtgefüge, an denen man kratzen muss. Das Ziel muss sein, dass sich alle Menschen, egal wie alt sie sind, woher sie kommen, welches Geschlecht sie haben, sicher fühlen und frei bewegen können.»

Theater : Sex und Kaffee

Die sechs jugendlichen Frauen auf der Bühne nehmen kein Blatt vor den Mund. Im Theaterstück «Flex» präsentieren sie lautstark die Erfahrungen junger Frauen in einer Gesellschaft, in der Sexismus und Gewalt gegen Frauen alltäglich sind. Mitten in der Debatte über sexuelle Übergriffe gibt das Stück einen ganz anderen Einblick in das Leben junger Frauen: frech und nachdenklich, witzig und ernst – unterbrochen durch Tanzszenen mit vollem körperlichem Einsatz.

Die Texte stammen mehrheitlich von den Schauspielerinnen und der Regie, inspiriert von «Unsagbare Dinge», dem neuen Buch der britischen Feministin Laurie Penny. Mitunter entfalten sie eine geballte Ladung an Wut auf der Bühne: darüber, dass es die Lösung sein soll, wenn Mädchen im Sexualunterricht lernen, Nein zu sagen – und wir gleichzeitig in einer Sexualkultur leben, in der, so Penny, «ein ‹Nein› so ziemlich das Erotischste ist, was eine Frau sagen kann». Oder darüber, dass junge Frauen dazu gebracht werden, die Körpermasse einer Barbie anzustreben. Eine Schönheitsnorm, die auch durch wertende fremde Blicke oder den eigenen kontrollierenden Blick aufrechterhalten wird. Im Gespräch über ihren Körper haben sich – so die Erzählung des Stücks – die Schauspielerinnen denn auch kennengelernt. Während ihre Freunde an einem heissen Sommertag in Shorts ins Wasser sprangen, überlegten sie am Ufer, welche Unterwäsche sie trugen und wie sorgfältig sie rasiert waren.

Eine Möglichkeit, Sexismus sichtbar zu machen, ist die Umdrehung der Rollen. So erzählt eine der Schauspielerinnen, wie ihr im Bus ein Mann die Hand auf den Oberschenkel legt. Und sinniert: Wenn sie selbst das bei ihm tun würde? Später zeigt der Vergleich von Sex und Kaffee die Absurdität gängiger Überzeugungsstrategien: Wer eben einen Kaffee wollte, muss ihn fünf Minuten später nicht unbedingt noch immer wollen – und niemand käme auf die Idee, jemanden zum Trinken zu überreden oder ihn gar dazu zu zwingen.

Rahel Locher

«Flex» in: Basel, Junges Theater Basel, bis 5. Februar 2016, Mittwoch bis Freitag, 20 Uhr. www.jungestheaterbasel.ch