Nordsyrien: «Eine Revolution ist möglich»

Nr. 7 –

Grössenwahnsinnig oder unglaublich naiv? Das Projekt Rojava ist beides. Unterwegs in einer Region, die der europäischen Linken zurzeit wie kaum ein anderer Ort als Projektionsfläche dient.

«You can go to the boat» – Sie können jetzt aufs Boot. Mit diesen Worten streckt die Dame dem Besucher die Papiere entgegen. Aufs Boot? «Ja. Gute Reise!» Die Frau trägt ein rotes Kopftuch und lächelt charmant. In Begleitung eines jungen Mannes mit umgehängter Kalaschnikow geht es zu einem Metallkahn, der den Tigris überqueren soll. Zu dieser Jahreszeit ist der Fluss nur etwa dreissig bis vierzig Meter breit, die Fahrt dauert höchstens ein paar Minuten. Auf der anderen Seite liegt Syrien, auf der anderen Seite liegt Rojava. Fast anderthalb Wochen hat die Reise gedauert – zuerst über die Türkei, wo die Grenze dicht ist, dann über die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak.

Auf den ersten Blick scheint vieles anders zu sein als erwartet. Selbst die Asajisch, Rojavas Polizeieinheiten, wirken um Welten freundlicher als andere Autoritäten. Aber ist das vielleicht alles nur Einbildung, weil über Rojava bereits so viel geschrieben wurde? Über diesen Landstrich im Norden Syriens, in dem die KurdInnen eine Revolution gestartet haben, um eine basisdemokratische Gesellschaft aufzubauen, das vielleicht emanzipatorischste Projekt der letzten Jahrzehnte – und eine Projektionsfläche der europäischen Linken. Hier wehrt sich die Menschheit gegen die Milizen des sogenannten Islamischen Staats, heisst es oft. Und besonders die Tatsache, dass sich auch Frauen am Krieg beteiligen, scheint die westliche Presse zu faszinieren. Mythos Rojava – das Land, in dem die Revolution lebt?

Kalaschnikow im Fussraum

Gerade einmal sechzig Kilometer südlich der irakisch-syrischen Grenze verläuft die Front, an der die Truppen des «Islamischen Staats» lauern. Doch auf den gewundenen, holprigen Strassen, die nach Kamischli führen, in die Hauptstadt des Kantons Cisire direkt an der Grenze zur Türkei, ist von dieser Gefahr nichts zu spüren. Auf dem Weg reiht sich eine Grossbaustelle an die andere. Obwohl Zement und Beton aufgrund des Embargos, das unter anderem die Türkei gegen Rojava verhängt hat, nur schwer zu bekommen sind, scheint in Rojava rege Bautätigkeit zu herrschen. Zudem stauen sich auf den Strassen die Lastwagen, die über eine schwimmende Pontonbrücke ins Land rollen, Coca-Cola in Dosen und chinesisches Plastikspielzeug ins Land bringen und auf ihrem Rückweg in die Türkei Baumwolle und Ziegen transportieren. Das Alltagsleben geht weiter. Die BewohnerInnen machen Geschäfte, treiben Handel, organisieren ihren Alltag. Gelegentlich werden Waren auch geschmuggelt.

Auf der Rückbank des zerbeulten Nissans sitzt ein französischer Trotzkist in einer brandneuen Uniform der kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG. Im Fussraum steht eine Kalaschnikow – trotz der Nähe des Krieges wirkt die Waffe seltsam harmlos. «Braucht man hier», meint der Fahrer des Wagens. Der junge Franzose mit dem Kampfnamen Hogir hat gerade eine zwanzigtägige militärische Grundausbildung hinter sich und ganz rote Wangen. Er sieht sehr jung aus und sehr ernst. Er raucht wie ein Schlot, wie das viele hier tun, ständig qualmt es um einen herum. Als die Truppen der YPG die Stadt Tal Abjad aus den Händen des Islamischen Staats zurückerobert hatten, wurden die EinwohnerInnen gefragt, was das Schlimmste unter der Zwangsherrschaft der Dschihadisten sei. «Dass wir nicht rauchen durften», war die Antwort. Also wird gequalmt, was das Zeug hält. Rauchen ist gegen die Islamisten. Rauchen ist revolutionär.

Die 200 000-EinwohnerInnen-Stadt Kamischli ist genauso vollgestopft mit Autos und Motorrollern wie viele andere grosse Städte in der Gegend. Es ist laut. Es wird gehupt. Der Basar ist überfüllt. StrassenhändlerInnen bieten Granatäpfel und Gemüse an. Töpfe, Schmiedekunst, Fleisch. Über den Strassen hängen Sonnensegel, die aus Zeltplanen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR genäht sind. Mitten in der Stadt, direkt vor einem Checkpoint der regulären syrischen Armee, steht ein überlebensgrosses Porträt des syrischen Machthabers Baschar al-Assad. Gewisse Teile von Kamischli und der Flughafen sind nach wie vor unter der Kontrolle des alten Regimes.

Dem Projekt Rojava wird deshalb immer wieder vorgeworfen, mit Assad zu kollaborieren. Viele Einheimische haben eine andere Erklärung parat. Man habe eben genug Geduld, um abzuwarten, bis sich das alte System in Syrien von selbst auflöse. Tatsache ist: Zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs, im Jahr 2011, als die PYD, der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die Macht in ganz Rojava übernahm, fiel in dieser Gegend kaum ein Schuss. Das Regime zog sich in einige Stadtteile zurück. So war es und so ist es immer noch.

Old-School-Revolutions-Chic

In den Büroräumen der MLKP, einer türkischen marxistisch-leninistischen Partei, stehen diverse Kalaschnikows achtlos angelehnt herum, an den Wänden prangen Bilder des sowjetischen Diktators Josef Stalin und anderer Schnauzbärte sowie das Konterfei der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Old-School-Revolutions-Chic. Was hält die Organisation von der eher anarchistisch angehauchten basisdemokratischen Revolution, wie sie in Rojava stattfindet? Ist das in ihren Augen überhaupt eine Revolution? «Natürlich», sagt die Vorsitzende des Büros, während sie den Zucker in ihrem Tee umrührt. «Nach marxistischer Auffassung ist das kein Widerspruch. Man muss die Gelegenheiten nutzen, die sich bieten – auch das ist marxistisch.» Und in Rojava finde nun mal eine beispiellose Demokratisierung statt.

«Der Erfolg von Rojava bedeutet ja genau eine Sache», fährt die Frau fort, die ihren Namen nicht nennen möchte: «Eine Revolution ist möglich!» Aus diesem Grund beteilige sich die MLKP eben auch aktiv an deren Verwirklichung – und das nicht nur durch zivilgesellschaftliches Engagement. Die Organisation, die in der Türkei als Terrorgruppe eingestuft wird, stellt ein eigenes Bataillon, das unter dem Oberkommando der YPG steht und in dem ausschliesslich bekennende InternationalistInnen kämpfen. Aus diesem Grund ist auch der junge Franzose hier, der eben von einem Mitarbeiter der MLKP zur Tür hinausgeleitet wird.

Die kurdische Übersetzerin dreht derweil unablässig eine Gewehrpatrone zwischen ihren Fingern. Der Krieg ist hier so alltäglich, dass er kaum auffällt. Die späte Nachmittagssonne scheint auf den Balkon des MLKP-Büros. Gespräch über den Traum von einer besseren Welt – ein Gespräch, wie es auch in Berlin oder Zürich stattfinden könnte. Genauso waghalsig, genauso utopisch. Und doch hat es hier in Rojava mehr Gewicht, weil die GesprächspartnerInnen der Meinung sind, dass sie den Traum schon leben. Und was hat sich ganz konkret verändert? Die MLKP-Vorsitzende lächelt. «Wo die Frauen früher eingesperrt waren, bewachen sie heute mit der Waffe in der Hand ihre Nachbarschaft. Gestern hatten sie noch keine Identität, heute unterstützen sie die Revolution. Es existieren Hunderte von Frauenakademien, in denen die Frauen darin geschult werden, ein eigenes Bewusstsein zu erlangen. Das hat sich verändert.»

Für manche KritikerInnen mag das nicht genug sein. Und auch die MLKP-Vertreterin betont, dass die Revolution weiter in eine sozialistische Richtung vorangetrieben werden müsse. Aber würde es am Ende auch nur auf die Verbesserung der Frauensituation hinauslaufen, hätte sich der ganze Aufwand doch schon gelohnt, sagt sie.

Nichts ohne die Frauen

Eine Verbesserung, die strukturell übrigens der westlichen Welt als Beispiel dienen könnte, wie Welide Boti betont. Die resolute Frau um die fünfzig mit dem herzlichen Lächeln agiert als Vorsitzende von Yekitija Star, dem Frauenverband von Rojava, im Kanton Cisire. In einem sehr nüchternen Büro erklärt sie geduldig die Struktur der kommunalen Selbstverwaltung: Zunächst einmal gebe es für jeden öffentlichen Posten eine Doppelspitze, bestehend aus einer Frau und einem Mann – was schon einen gewissen Machtmissbrauch ausschliesse. Zudem existiere eine Rätestruktur, die ganz unten bei den Kommunen anfange und sich über ein kompliziertes Delegiertensystem, in dem auch Vereine und Verbände vertreten sind, bis zum Kantonalrat aufbaue.

Ziel sei es, alle in Rojava lebenden Menschen in die politische Arbeit einzubinden. «Damit das auch die Frauen erreicht», fährt Boti fort, «gibt es die gleiche Struktur auch gesondert für Frauen.» Für jeden Strassenzug und jeden Stadtteil und jede weitere Ebene gebe es einen eigenen Frauenrat – mit absolutem Vetorecht. Nichts könne also ohne die Frauen beschlossen werden und nichts gegen sie. Der Preis dieser Mitbestimmung sei allerdings, dass man sich auch aktiv an all den Sitzungen beteiligen müsse. Wer hat so viel Sitzfleisch? Wer hat Lust auf so viel Gerede? Wer hat die Zeit?

Berivan schon mal nicht. Die junge Mutter, die ihren Nachnamen nicht preisgeben will, hat in ihrem Haus am Stadtrand von Kamischli gerade zwei Freundinnen zu Besuch. Das grosse Wohnzimmer ist voll: drei Frauen, zehn Kinder, das jüngste ein paar Monate alt. Ungefähr die Hälfte der Frauen beteilige sich an der gesellschaftlichen Arbeit, hatte Frauenaktivistin Boti gesagt. «Keine Zeit», sagt Berivan und deutet auf die Kinder. «Mein Mann kämpft bei der YPG, das muss reichen.» Womöglich entspricht der Traum von einer fünfzigprozentigen Frauenbeteiligung eher dem Wunsch der AktivistInnen als der Realität.

Niemand knallt den anderen ab

Derweil herrscht in der Nachbarschaft Krieg, der Islamische Staat bedroht Rojava im Süden, die Türkei im Norden – und auch die Machthaber im irakischen Teil Kurdistans scheinen dem basisdemokratischen Projekt gegenüber nicht gerade aufgeschlossen zu sein. Zudem marschieren in Syrien die Weltmächte auf, die jeweils ihre ganz eigenen Interessen verfolgen. Unter diesen Umständen eine Basisdemokratie aufbauen zu wollen, ist entweder grössenwahnsinnig oder unglaublich naiv. Rojava ist beides.

Zuweilen erinnert Rojava an einen Stadtteil, der spontan von einer linksradikalen Gruppierung übernommen wurde: Zwar haben die Mädchen und Jungs vom Schwarzen Block auf der Strasse jetzt das Sagen. Sie haben jedoch viele der übrigen EinwohnerInnen gegen sich. Und sie müssen mit dem Typen von den Elektrizitätswerken klarkommen, der nach wie vor ein übler Reaktionär ist – und den man nicht einfach rausschmeissen kann, weil er der Einzige ist, der weiss, wie der Generator funktioniert. Und dann gibt es noch die, denen egal ist, wer regiert, weil sie einfach nur Geschäfte machen wollen. Diesen Fraktionen und Einzelpersonen ein Zusammenleben zu ermöglichen, ist nicht einfach. Trotz allem scheint es irgendwie zu funktionieren. Zumindest knallt niemand den anderen ab, obwohl so gut wie alle eine Waffe tragen.

Younes Bouadi kommt aus den Niederlanden und arbeitet für den New World Summit, ein international agierendes KünstlerInnenkollektiv. In den letzten Monaten war er in der Stadt Derik – rund achtzig Kilometer von Kamischli entfernt – mit dem Bau eines Kongresszentrums betraut. Wie steht es um die viel beschworene Basisdemokratie in Rojava? Es sei beim Bau sehr viel demokratischer zugegangen, als er es sich jemals vorgestellt hätte, sagt Bouadi. «Manchmal hätte ich mir wirklich gewünscht, dass es so etwas wie Korruption gibt – einfach nur, um die Dinge zu beschleunigen. Die Realität aber besteht darin, dass alle Einzelheiten auf allen Ebenen besprochen und diskutiert werden müssen.»

Kein Platz also für geheime Absprachen auf irgendwelchen Partys, auf denen man mit den Männern trinkt? Nein, weil das Ganze ja auch noch von den Frauen abgesegnet werden müsse. Bouadi verweist auf die Transparenz, die ihm manchmal fast schon unheimlich sei: «Ich war es nicht gewohnt, dass der Chauffeur plötzlich in einer Besprechung auftaucht und ebenfalls über das Budget diskutieren will – hier ist das jedoch absolut normal.» In Rojava wird die Revolution eben ausdiskutiert.