Der Draufgängerische Prinz: «Game of Thrones» in Riad
Der zuvor fast unbekannte Muhammad bin Salman dominiert die saudische Politik. Führt der junge Vizekronprinz sein Land zu notwendigen Reformen – oder aber in den Abgrund?
Fast alles, was in den letzten Monaten aus Saudi-Arabien heraus für internationale Schlagzeilen sorgte, trug die Handschrift von Muhammad bin Salman al-Saud, weitherum bekannt unter seinen Initialen MbS. Der Dreissigjährige gilt als Lieblingssohn des Anfang 2015 inthronisierten achtzigjährigen Königs Salman, der arg kränkelt und dem keine lange Amtszeit zugetraut wird. So gilt nicht der König als einflussreichster Mann der Golfmonarchie, sondern der draufgängerische Prinz.
Kampf um den Thron
Bombastisch trat MbS erstmals in Erscheinung, als er im März 2015 – nur zwei Monate nach seiner Ernennung zum Verteidigungsminister – mit einer sunnitischen Militärallianz das Nachbarland Jemen angriff. Nach US-Vorbild liess er die Militärintervention gegen die schiitische Huthimiliz von einer imposanten PR- und Medienkampagne begleiten (Titel: «Sturm der Entschlossenheit») und liess sich selbst dauernd im Einsatzführungskommando mit seinen Generälen filmen.
Ende April 2015 ernannte König Salman seinen 57-jährigen Neffen Muhammad bin Naif zum Thronfolger. Es schien eine austarierte Wahl: Der Enkel von Staatsgründer Abdel Asis ist ein erfahrener Politiker und verkörpert trotzdem einen Generationenwechsel. Als langjähriger Innenminister gilt er als das «Gesicht der Antiterrorkampagne» Riads, wobei er 2009 selbst beinahe einem Selbstmordanschlag von al-Kaida zum Opfer gefallen wäre. Gleichzeitig ernannte Salman seinen Sohn MbS zum Vizekronprinzen – eine für manche, traditionell auf Seniorität und Zurückhaltung schwörende Königsfamilienmitglieder provokante Wahl.
MbS ist mittlerweile nicht nur Verteidigungs-, sondern auch Hofminister, womit er den Zugang zum König kontrollieren kann. Und er tut nun alles, um seinen Cousin von der Thronfolge zu verdrängen. So soll er dem amtierenden Innenminister bei der «inneren Sicherheit» das Heft aus der Hand genommen haben und jegliche politische Dissidenz noch stärker als bisher verfolgen. Der Politikwechsel führte zu einer Verdoppelung der vollstreckten Todesurteile innerhalb eines Jahres – und im Januar zur Exekution des weithin verehrten schiitischen Klerikers Nimr al-Nimr. Es sind populistische Massnahmen, die bei der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung gut ankommen und den grossen Feind Iran provozieren.
Die in einem fantastischen Mittelalter spielende US-Fernsehserie «Game of Thrones» ist überaus hilfreich, um den «Plot des gesamten bisherigen 21. Jahrhunderts» zu verstehen. So schrieb zumindest die britische Feministin Laurie Penny in der letzten WOZ (siehe Nr. 18/2016 ). Das trifft auf die aktuellen Umwälzungen in Saudi-Arabien besonders zu – nicht nur, weil es in der absoluten Monarchie tatsächlich noch einen Thron gibt, um den es sich zu kämpfen lohnt. Im Gegensatz zu ebenfalls fantastisch anmutenden Machtspielen in Washington, Moskau oder Ankara vermiest in Riad kaum ein Element der Gewaltenteilung die Dramaturgie. Da können einzelne Vertreter der Dynastie noch wirklich einsame, möglicherweise desaströse Entscheidungen fällen.
Arabischer Thatcher-Klon
MbS setzt sich neben einer aggressiven Aussen- und Innenpolitik auch mit einer weitreichenden Wirtschaftsreform in Szene. Angekündigt hat er sie vorletzte Woche unter dem Titel «Vision 2030». Der Prinz gibt sich dabei als «arabischer Thatcher-Klon»: Wie die britische Ikone des Neoliberalismus privatisiert er staatliche Unternehmen und anderes Staatsvermögen grosszügig. Im Zentrum steht der grösste Ölkonzern der Welt, Saudi Aramco. Durch einen Teilverkauf des auf rund zwei Billionen Franken geschätzten Ölproduzenten wird das weltgrösste börsennotierte Unternehmen entstehen. Und mit dem Verkaufserlös soll der weltgrösste Staatsfonds gebildet werden; er soll durch Grossinvestitionen neue Wirtschaftszweige aufbauen.
Ziel ist es, die extreme Abhängigkeit von Öleinnahmen zu mindern. Letztes Jahr machten diese gegen neunzig Prozent der Staatseinnahmen aus. Seit der Ölpreis auf unter fünfzig US-Dollar pro Fass gefallen ist, herrscht in Riad Panik – das Königshaus braucht mindestens den doppelten Preis, um finanziell durchzukommen.
Denn die Aufrechterhaltung des Regierungssystems kostet viel: Mit grosszügigen Sozialleistungen, Subventionen und staatlichen Pseudojobs werden die BürgerInnen ruhiggestellt. Hinzu kommen teure aussenpolitische Aktivitäten, um die Vorherrschaft in der Region zu sichern: Der Jemenkrieg schlägt derzeit mit rund sechs Milliarden Franken pro Monat zu Buche; in Syrien werden verschiedenste Anti-Assad-Gruppierungen und in Ägypten Präsident Abdel Fattah al-Sisis Militärregime unterstützt.
Die Wirtschaftsreform, in Kombination mit dem Machthunger des jungen Prinzen, hat sich bereits in einer Regierungsumbildung niedergeschlagen: Seit vergangenem Samstag ist der 81-jährige Ali al-Naimi nicht mehr Ölminister. 21 Jahre lang hatte er praktisch freie Hand, um über die Organisation erdölexportierender Länder (Opec) das Ölangebot so zu steuern, dass die saudische Staatskasse immer optimal gefüllt war. Schon Mitte April hatte MbS durch einen Telefonanruf erreicht, dass erweiterte Opec-Gespräche in Doha, die beinahe zu einer Deckelung der Ölproduktion geführt hätten, abgebrochen wurden – dem Vizekronprinzen missfiel, dass der Iran da nicht mitmachen wollte. Nun ist aus dem Ölministerium ein Ministerium für Energie, Industrie und Bodenschätze geworden. Dabei sollen erneuerbare Energien gefördert werden, damit das saudische Erdöl nicht wie bisher zu einem Viertel im Land selbst konsumiert wird, sondern noch stärker dem Export zur Verfügung steht.
Die Produktion von Solarzellen, der Ausbau des Tourismussektors und der Aufbau einer eigenen Waffenindustrie sind Beispiele, wie die saudische Wirtschaft diversifiziert werden soll – auch mit dem Ziel, für die junge saudische Gesellschaft endlich echte, wirtschaftlich produktive Jobs zu schaffen. Das soll bis 2030 die Arbeitslosenquote von heute fast 12 auf 7 Prozent senken – und den Frauenanteil von 22 auf 30 Prozent der Erwerbstätigen erhöhen. Im Zweifel schiebt der sich als modern und weltoffen gebende Prinz MbS dann aber doch gern auch traditionelle Zwänge vor – gegenüber saudischen Medien sagte er, die «Gesellschaft» sei weiterhin nicht davon überzeugt, dass Frauen Auto fahren dürfen.
Der zynische Plan B
MbS hat innerhalb eines Jahres bewiesen, dass er das Machtspiel in Riad vorzüglich beherrscht. Doch der Preis dafür ist hoch. Aussenpolitisch hat der Prinz sein Land in desaströse Abenteuer gestürzt. Im Jemen ist MbS trotz rücksichtsloser Bombardements, denen bereits weit über tausend ZivilistInnen zum Opfer fielen, seinem Kriegsziel kaum näher gerückt. Weil seine Reputation zu Hause stark auf der Rolle als Kriegsherr beruht, ist kein Rückzug abzusehen.
Innenpolitisch könnte seine Wirtschaftsreform im Desaster enden. Die «Vision 2030» wirkt wenig durchdacht. Der irische Nahostexperte Patrick Cockburn vergleicht sie mit dem «Grossen Sprung nach vorn», mit dem Mao Zedong 1958 das Agrarland China in ein Industrieland verwandeln wollte – und stattdessen eine riesige Hungerkatastrophe auslöste. Weniger dramatisierende KommentatorInnen fragen sich, ob die Reform nicht einfach am unzeitgemässen Bildungssystem des Landes scheitert oder an der Anspruchshaltung der meisten BürgerInnen, die sich längst an Subventionen und Pseudojobs gewöhnt haben – und daran, dass die eigentliche Arbeit von AusländerInnen verrichtet wird.
Ob es Vizekronprinz MbS letztlich auf den Thron schafft, könnte entscheidend vom Erfolg seiner Wirtschaftsreform abhängen. Wie die draufgängerischen Figuren in «Game of Thrones» spielt er mit höchstem Einsatz. Ihm ist wohl bewusst, dass er nur so den offiziellen Thronfolger überholen kann. Falls dieser Plan schiefgeht, gäbe es wohl auch noch einen Plan B (Cockburn hält dies gar für die eigentliche «zynische Erklärung» der Wirtschaftsreform): Mit dem Staatsfonds, der aus dem Aramco-Teilverkauf entsteht, wird letztlich das saudische Staatsvermögen liquide gemacht. Die Kontrolle über den Fonds erhält ziemlich sicher Vizekronprinz MbS höchstpersönlich. Er und der ihm wohlgesinnte Teil der Königsfamilie dürften also bald einiges an zusätzlichem Bargeld zur Hand haben, um einen Machtkampf mit allen Mitteln auszutragen. Im schlimmsten Fall liesse es sich leicht ins Ausland verschieben oder würde ein luxuriöses Exil ermöglichen. Auch das steht möglicherweise so ähnlich schon irgendwo im Skript von «Game of Thrones».