EU-Abstimmung in Britannien: Die Sehnsucht nach der Insel

Nr. 24 –

Sollte die Spaltung der EU in letzter Sekunde abgewendet werden, wäre dies auch Hugo Dixons Verdienst. Zusammen mit KollegInnen betreibt der britische Journalist eine Website, auf der Kategorien zurechtgerückt werden. Verbietet die EU britischen Kindern, Ballons aufzublasen? Führt Brüssel einen erbitterten Feldzug gegen Garnelenchips? Wird die Türkei schon 2020 EU-Mitglied sein? Dies sind nur einige der Mythen, die sich hartnäckig halten – und die Dixon und sein Team widerlegen.

Kommende Woche stimmen die BritInnen über den Verbleib in der EU ab – und die Maschine der AustrittsfreundInnen läuft auf Hochtouren. Derweil das Boulevardblatt «Sun» für den Brexit weibelt («BeLEAVE in Britain»), reden rechte PolitikerInnen von «EU-Gefängnis» und «Brüssel-Diktat». Ähnlich ertönt es derzeit aus Paris oder Budapest: die EU als böser Feind in allen Lebenslagen. Gemeinsam ist den GegnerInnen der Wunsch nach (vermeintlicher) Freiheit und Autonomie. Die Sehnsucht nach dem Inselleben.

Sollte am 23. Juni tatsächlich eine Mehrheit für den Austritt aus der EU votieren, werden nicht nur die BritInnen am nächsten Tag in einem anderen Land aufwachen. Dies mag alarmistisch klingen, doch die Dynamik, die ein Brexit auslösen könnte, lässt sich nicht vorhersehen. Konkrete Prophezeiungen bleiben Spekulationen.

«Eine immer engere Union für die Völker Europas» hatten die Gründungsväter der EU 1957 angestossen. Seither ist der Klub gewachsen – von anfangs 6 auf zuletzt 28 Staaten. Mit jedem neuen Abkommen wuchs auch die Unzufriedenheit, vor allem in der Linken sank die Akzeptanz für das gesamte Projekt immer weiter. 2005 lehnten FranzösInnen wie HolländerInnen den Verfassungsvertrag ab. Der halbherzige Versuch, aus einer neoliberalen Wirtschaftsunion eine echte politische Gemeinschaft zu zimmern, scheiterte erneut. Der Vertrag von Lissabon, den die Mitgliedstaaten wenige Jahre später abschlossen, war das Resultat dieses Scheiterns. Damals wurde auch erstmals die Option eines Austritts skizziert: ein paar schwammige Paragrafen – geschrieben, um nie angewendet werden zu müssen.

Britanniens Austritt aus der EU wäre der Tiefpunkt in einem komplexen Verhältnis. Gerade die Konservativen machten eine wundersame Wandlung durch: Von glühenden EU-Fans, als die Labour-Regierung 1975 über den Verbleib in der Union abstimmen liess, wurden sie über die Jahre zu erbitterten GegnerInnen. Maggie Thatcher erstritt 1984 einen Sonderrabatt («I want my money back»), seither wurden Banken gestützt und Gewerkschaften geschwächt. Britannien hielt sich auch aus Eurogruppe und Schengenraum heraus. Mit praktisch jedem EU-Vertrag erhielt London eine Möglichkeit mehr, sich auszuklinken. Über Jahre hinweg kultivierten die BritInnen die Distanz zum Kontinent. Europa, das waren (und sind) die anderen.

Entsprechend wird im Brexit-Lager auch jetzt für Souveränität gestritten («We want our country back») – und dabei Autonomie mit Freiheit verwechselt. Denn Souveränität entsteht erst durch die Einbindung in das Netz internationaler Verflechtungen. Würde Autonomie Souveränität bedeuten, wäre Nordkorea das souveränste Land der Welt.

Nicht nur Britannien selbst wartet gebannt auf den Abstimmungsdonnerstag. Ein Ja-Votum würde jahrelange Verhandlungen mit der EU nach sich ziehen, unzählige Fragen aufwerfen. Befeuert der Brexit die schottische Unabhängigkeitsdebatte? Was geschieht mit der Grenze zwischen Irland und Nordirland? Welche Folgen hat der Brexit für die Wirtschaft? Welches Land stimmt als nächstes über einen Austritt ab? Die Liste der Konfliktlinien ist lang.

Labour unter ihrem neuen, linken Vorsitzenden Jeremy Corbyn kämpft für den Verbleib. Die Partei weiss: Die Europäische Union muss radikal reformiert werden, sozialer wie demokratischer werden. Doch sie weiss auch: Sie lässt sich besser umkrempeln, wenn man die fortschrittlichen Kräfte innerhalb des Klubs bündelt. Solidarität findet man auf keiner Insel. Sie entsteht in der Zusammenarbeit.