Jolanda Spiess-Hegglin (35), Zuger Politikerin: «Dann werden sie plötzlich ganz klein»
Zuerst brach Jolanda Spiess-Hegglin zusammen. Dann beschloss sie, mithilfe der Justiz zurückzuschlagen.
Am Heiligabend vor zwei Jahren endete das alte Leben von Jolanda Spiess-Hegglin auf einen Schlag. Der «Blick» brachte auf der Titelseite die «Zuger Sexaffäre» ins Rollen – und katapultierte die Kantonsrätin (damals: Grüne) über Nacht von der überschaubaren lokalpolitischen Bühne ins grelle Scheinwerferlicht der nationalen Medienöffentlichkeit. «Ich verfiel zunächst in Schockstarre», sagt sie. «Mein einziger Gedanke war, dass wir als Familie irgendwie Weihnachten überstehen mussten.»
«Opfertheater» unterstellt
Bis Silvester tauchte sie ab. Als sie die Aussenwelt wieder an sich heranliess, schlug ihr eine geballte Ladung Hass entgegen. In Mails, SMS, anonymen Hassbriefen und in den Onlinekommentarspalten der Newswebsites wurde sie als «Hure» und «Lügnerin» beschimpft. In jenem Moment hatte Spiess-Hegglin den Eindruck, dass Hunderte von Menschen gegen sie seien. «Heute weiss ich, dass es auch damals schon Zuspruch gab, vor allem von Frauen, aber das ging in dieser Hasslawine unter, die auf mich zurollte.»
Noch im Herbst 2014 stand Spiess-Hegglin vor einer verheissungsvollen politischen Karriere. Innerhalb von nur drei Jahren war die gelernte Journalistin zur Hoffnungsträgerin der Zuger Grünen aufgestiegen. Ihre Partei wählte sie zur Kopräsidentin, sie zog in den Kantonsrat ein, und sie lieferte eine Aufsehen erregende Geschichte: Ivan Glasenberg, Chef der Rohstofffirma Glencore, bat sie zum Gespräch, nachdem Spiess-Hegglin den Konzern öffentlich kritisiert hatte. Die ersten negativen Reaktionen folgten. In der Lokalpresse erschienen einige Leserbriefe mit dem Vorwurf, sie zerstöre den einheimischen Wirtschaftsplatz. «Das ging mir nicht wirklich nahe.»
Als in der zweiten Januarwoche 2015 in der «Weltwoche» ein tendenziöser Artikel erschien, der Spiess-Hegglin ein «Opfertheater» unterstellte und ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zog, brach sie zusammen. Sie verlor in jenen Wochen zehn Kilogramm an Gewicht, schlief häufig schlecht und musste sich psychologisch behandeln lassen. «Ich war immer ein positiv denkender Mensch. Nie im Leben hätte ich gedacht, jemals Antidepressiva zu nehmen.» Ende Januar folgte der «schwierigste Gang ihres Lebens» an die erste Kantonsratssitzung nach dem fatalen Vorfall. Spiess-Hegglin wusste, dass sie dahin musste – koste es, was es wolle. Nachdem sie «diesen furchtbaren Tag» überstanden hatte, tauchte sie erneut eine Zeit lang unter.
Im März 2015 kochte die Geschichte medial nochmals hoch, als das Untersuchungsergebnis ihrer Haarprobe bekannt wurde. Eine erneute Hasslawine rollte auf sie zu und lähmte sie erneut. «Es gab Tage, da konnte und wollte ich nicht aufstehen. Der Impuls, einfach liegen zu bleiben, war stark.» Ihr privates Umfeld habe ihr damals und bis heute glücklicherweise immer genug Halt gegeben, um solche Gedanken zu vertreiben.
Auf Recherche mit Fakeprofilen
Der Wendepunkt kam im April nach einer längeren Auszeit. Spiess-Hegglin fühlte sich nun stabiler. Und sie spürte, dass sie mittlerweile einen gewissen Schutzpanzer gegen die Hassbotschafter – «die Absender waren zu neunzig Prozent Männer» – aufgebaut hatte. In jener Zeit entschied sie sich, im Umgang mit diesen Leuten einen neuen Weg einzuschlagen. Sie begann, die Hasskommentare zu archivieren und Informationen über die Absender zu sammeln. «Ich bin zu einer Art Detektivin geworden», sagt sie. Auf Facebook habe sie sich beispielsweise Fakeprofile zugelegt, um so Einblicke in frauenfeindliche oder rassistische Gruppen zu erhalten, in denen mehrere Absender von Hassbotschaften aktiv sind.
Rund dreissig Klagen, hauptsächlich wegen Ehrverletzung, hat Spiess-Hegglin bisher eingereicht. In mehreren Fällen ist es bereits zu Strafbefehlen oder Vergleichsverhandlungen vor der Staatsanwaltschaft Zug gekommen. Bei Letzteren sitzen alle drei Parteien an einem Tisch – Anklägerin, Angeklagter und Staatsanwaltschaft. «Vom Hass und von der Aggression bleibt nichts übrig. Die werden plötzlich ganz klein, wenn ich sie direkt ins Gesicht frage, weshalb sie mich eine ‹linke Fotze› genannt haben», sagt Spiess-Hegglin. Kein Einziger, mit dem sie einen Vergleich aushandelte oder der einen Strafbefehl bekam, habe danach wieder eine Hassbotschaft an sie versendet.
Heute ist sie Piratin
In den vergangenen Monaten habe sie oft zu hören bekommen, sie hätte irgendwann einfach mal schweigen sollen, statt immer wieder öffentlich aufzutreten und sich zu wehren. «Das ist doch auch eine Frage der Persönlichkeit. Ich musste mich dagegen wehren, ich wollte das klargestellt haben. Sonst hätte sich das für mich wie ein Eingeständnis angefühlt, dass alles doch halb so wild war. Aber das war es für mich nicht. Punkt!», sagt sie.
Sie wünsche sich eine breite Debatte zum Thema Hassrede, damit künftige Opfer besser aufgefangen und betreut werden als sie selbst. «Bis heute gibt es meiner Ansicht nach keine wirklich schnellen Hilfeleistungen, keinen Ort, an den man sich wenden könnte, um Informationen einzuholen, was für Möglichkeiten bestehen, sich zu wehren», sagt Jolanda Spiess-Hegglin.
Sinnvoll fände sie auch klare Richtlinien im Umgang mit Hassbotschaften, und zwar sowohl für Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Twitter als auch für traditionelle Medienhäuser. Heute sei das völlig intransparent. «Ich habe nie verstanden, wieso etwa der ‹Blick› immer wieder die Kommentarfunktion zuliess in seiner Berichterstattung über mich. Der Hass des Mobs hat sich dort besonders heftig verbreitet.»
Jolanda Spiess-Hegglin ist immer noch Mitglied des Zuger Kantonsrats, allerdings nicht mehr für die Grünen, sondern als Mitglied der Piratenpartei. Das Gebaren der Zuger Rohstofffirmen kritisiert sie nach wie vor vehement, aber ihr politisches Programm hat sich verschoben: Den grössten Platz nimmt nun der Kampf gegen die Hassrede ein.