Polizeiwillkür in Bern: Überfall auf die «Hippieverhältnisse»
Die Spezialeinheit «Enzian» stürmte in Bern Häuser und hielt unbescholtene Menschen stundenlang gefesselt fest. Der Staatsanwalt möchte das Verfahren einstellen – obwohl neue Erkenntnisse viele Fragen aufwerfen.
Die WOZ zeigte vergangenen September auf, wie die Spezialeinheit «Enzian» in Bern und Ostermundigen wiederholt zwischengenutzte Häuser stürmte und verstörte HausbewohnerInnen und hohe Sachschäden hinterliess. In allen Fällen waren die Betroffenen keiner Straftat beschuldigt. Die Razzien hatten Personen gegolten, die sich als Gäste in den Häusern aufhielten (vgl. WOZ Nr. 38/2015 und WOZ Nr. 22/2016 ).
Aufkleber als Anlass
Fünf BewohnerInnen eines Hauses in Ostermundigen erstatteten Anzeige gegen mehrere Polizisten, unter anderem wegen Amtsmissbrauch, Freiheitsberaubung, Gefährdung des Lebens, Nötigung und Sachbeschädigung. Der Basler Staatsanwalt Antonio Fabbri wurde als ausserordentlicher Staatsanwalt eingesetzt, um die Vorgänge vom 19. August 2015 zu klären. Die Befragungsprotokolle der beiden verantwortlichen Polizisten – sie liegen der WOZ vor – zeigen, dass die Vorwürfe zutreffen. Die HausbewohnerInnen hatten keinen Widerstand geleistet, dennoch verbanden die Polizisten ihnen die Augen und legten sie stundenlang in Fesseln. Ausserdem hatten die Polizisten die Zimmer mit ungesicherten Pistolen gestürmt.
Die angezeigten Polizisten rechtfertigten den Einsatz der Spezialeinheit mit der «Gefährlichkeit» der BewohnerInnen. Diese leite sich ab aus Aufklebern, die bei einer früheren Hausdurchsuchung gefunden worden seien. Bei dieser ersten von zwei Razzien hatte die Polizei einen Mann gesucht, dem Sachbeschädigung vorgeworfen wurde – der aber ebenfalls woanders wohnte. Auf den Aufklebern stand «A.C.A.B.», was für «All Cops Are Bastards» steht. Keine schmeichelhafte Bezeichnung – doch stellt sie keinen Straftatbestand dar. Sie ist bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen in Form von Stickern und T-Shirts derart verbreitet, dass «Enzian» jeden Tag eine WG stürmen müsste. Nachdem sich alle Vorwürfe gegen die Polizisten als richtig erwiesen hatten, teilte Staatsanwalt Fabbri den Parteien mit, dass er das Verfahren einzustellen plane. Wie er der WOZ mitteilte, «mangels erfülltem Tatbestand, teils wegen Vorliegens von Rechtfertigungsgründen».
Rapport wirft neue Fragen auf
Dabei wirft ein Rapport der Berner Kantonspolizei, der der WOZ ebenfalls vorliegt, neue Fragen auf. Aus diesem Rapport vom 13. August 2015 geht hervor, dass zwei Fahnder am 11. August 2015 jenen gesuchten Mann, mit dessen Verfolgung dann die folgende Razzia begründet wurde, beim Verlassen des Hauses in Ostermundigen «zweifellos als den Gesuchten identifizierten». Aus «einsatztaktischen Gründen wurde von einer Anhaltung abgesehen».
Stefan Schmidli, der Anwalt der Geschädigten, sagt: «Man hätte den Mann damals nicht nur verhaften können, die Polizei hätte ihn verhaften müssen, er war ja zur Fahndung ausgeschrieben.» Dass die Polizei davon absah, sei ein Indiz dafür, dass man den Gesuchten, der kurz als Gast in dem Haus gewohnt hatte, als Vehikel dafür benutzen wollte, um in die Häuser einzudringen und herauszufinden, wer dort unter welchen Umständen wohne. Dass der Staatsanwalt nicht zwischen dem Strafverfahren gegen jenen gesuchten Mann und der Razzia gegen das Haus seiner MandantInnen unterscheide, sei bedenklich: «Ich sehe kein wirkliches Interesse an einer Strafverfolgung der verantwortlichen Polizisten.» Der Einsatzleiter der Razzia rechtfertigte das Durchwühlen der zwanzig Zimmer der BewohnerInnen so: «Tatsache ist, dass bei diesen Hippieverhältnissen die Zimmer von allen benutzt werden, weil sie allen zugänglich sind.»
Annina Mullis von den Demokratischen Juristinnen und Juristen sagt, die geplante Einstellung des Strafverfahrens zeige einmal mehr, dass es unabhängige Untersuchungsstellen brauche, die Ermittlungen gegen angezeigte Polizisten führten. «Auch ein ausserkantonaler Staatsanwalt ist letztlich ein Staatsanwalt, Auftraggeber und Partner der Polizei.»