Jugendkrawalle: In Pipilottis Gummizelle

Nr. 14 –

Die St. Galler Osterkrawalle erzählen nicht nur einiges über eine coronamüde Jugend, sondern auch über aufgewertete Innenstädte. Eine nächtliche Beobachtung.

«Chillen», «endlich Leute treffen», «Dampf ablassen», «wieder einmal etwas erleben»: Jugendliche auf dem Roten Platz in St. Gallen. Foto: Raphael Rohner, «St. Galler Tagblatt»

Über dem St. Galler Bleicheliquartier kreist an diesem Freitagabend ein Milan. Erneut wollen sich hier Jugendliche treffen, um aus den Coronaregeln auszubrechen. «St. Galle mue duredreie», heisst es in einem Aufruf. In der Vorwoche kam es nach einer von der Polizei aufgelösten Party zu Sachbeschädigungen. Bevor das hysterische Newsgetickere einsetzt – «20 Minuten» und «Blick» sind schon je mit einem Vierertrupp vor Ort – lohnt sich, dem Milan folgend, ein Blick aus historischer Vogelperspektive auf das Quartier. Wo genau liegt der ominöse Rote Platz, von dem die halbe Schweiz spricht?

Im Bleicheli draussen vor der Textilstadt wurden einst die Tücher gebleicht; später fand hier vieles Platz, was nicht in die honorable Gesellschaft passte: die jüdische Synagoge etwa oder das italienische Konsulat. Ein autonomes Jugendzentrum gab es hier in den Achtzigern, eine alternative Kunsthalle entstand, in den nuller Jahren verbreitete eine Abbruchbeiz namens «Frohegg» neue Soundwellen. Darauf wurde das Geviert aus billigen Wohn- und Gewerberäumen für den Hauptsitz der Raiffeisenbank platt gewalzt und passend zu deren Markenfarbe ein roter Teppich ausgelegt. «Stadtlounge» heisst das Projekt von Künstlerin Pipilotti Rist und Architekt Carlos Martinez, ein öffentliches Wohnzimmer aus Gummigranulat als Entschuldigung für den zerstörten Freiraum.

Ganz einfach frustriert

Dass die coronamüden Jugendlichen ihre Partys in St. Gallen feiern wollen, mag ein Zufall sein. Dass sie sich auf dem Roten Platz versammeln, hat aber eine tiefere Logik. Nichts symbolisiert den Zustand der Schweizer Innenstädte besser als dieses Plastikspielzimmer mit roten Sofas, rotem Brunnen und rot überzogenem Auto: Der politische Aussen- wird in einen privaten Innenraum verkehrt und zur abwaschbaren Gummizelle für die Ausgangsjugend. Die St. Galler Stadtverwaltung hat zur Reinigung des Teppichs sogar ein Spezialfahrzeug angeschafft.

Auf den roten Sofas sitzen erst wenige Leute. Einer weiss im Detail zu berichten, wie die Pandemie von der Rockefeller Foundation geplant worden sein soll. Ansonsten sucht man vergeblich nach CoronaverschwörerInnen, in deren Chats auch mobilisiert wurde. Dafür kommen immer mehr Jugendliche vorbei, die meisten mit Alkohol ausgerüstet; fast alle tragen eine Gesichtsmaske, zumindest knapp über der Nase. Sie argumentieren nicht mit Inzidenzwerten gegen die Massnahmen. Sie sind über ihre Situation ganz einfach frustriert, sehr frustriert.

Ihre Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Aber sie geben noch so gerne Auskunft, wenn man ihnen zuhört: «Wir fühlen uns eingesperrt im eigenen Zimmer», sagen sie. «Es ist wie in einem Film, der sich ständig wiederholt.» Davon werde man doch depressiv. «Wir können nur die engsten Kollegen treffen. Wir haben keine Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen.» In ihrem Alter sei das besonders schlimm. «Zum sechzehnten Geburtstag konnten wir nicht einmal eine Party machen.» Auch der Schulunterricht sei anstrengend, besonders von zu Hause aus. «Und ständig gibt es neue Regeln.»

Auf die Älteren werde während der Pandemie viel Rücksicht genommen, die Jungen aber habe man vergessen, lautet der Tenor. Eine junge Frau formuliert es politisch: «Das hier ist schon so etwas wie eine Demonstration. Wir wollen unsere Jugend, unsere Freiheit zurück.» Ein anderer erzählt einen Witz: «Was werde ich antworten, wenn ich in Zukunft gefragt werde, wo ich meine Jugend verbrachte? In der Quarantäne.» Dass längst nicht alle Gleichaltrigen ihre Kritik teilen, räumen die Anwesenden ein: «Einige unserer Kollegen haben uns abgeraten hierherzukommen.»

Die 500 Jugendlichen auf dem Roten Platz kommen nicht nur aus St. Gallen, sondern aus der ganzen Ostschweiz und von weiter weg. Die meisten sind zwischen fünfzehn und achtzehn Jahre alt, geschätzte zwei Drittel der Anwesenden sind Männer, ein Drittel Frauen. Viele machen eine Lehre, manche haben einen Migrationshintergrund. Auch das geht aus den Begegnungen hervor: Das hier ist keine Party, an der sich Wohlstandskinder treffen, denen während der Pandemie ein Auslandsjahr flöten geht. Zusammengefunden haben hier eher Jugendliche aus ärmeren Familien, die um ihre sozialen Perspektiven fürchten.

Die Stadtpräsidentin mittendrin

«Chillen», «endlich Leute treffen», «Dampf ablassen», «wieder einmal etwas erleben»: So und ähnlich tönen die Gründe, warum die meisten nach St. Gallen gekommen sind. Sachbeschädigungen lehnen sie ab. Aber gespannt darauf, ob es heute wieder abgeht, sind doch alle. Ein berühmter Nirvana-Song trägt den Titel «Smells Like Teen Spirit». An diesem Freitagabend in St. Gallen riecht es stark nach dem Deogeruch der Jugend, dem Kurt Cobain seinen Song widmete: nach Rumhängen, Aufbegehren, Blödtun, Sehnsucht, Alkohol und Testosteron. Hauptsache, Action.

Oben am Himmel hat längst ein Polizeihubschrauber den Milan vertrieben. Sein Rotorenlärm trägt zur angespannten Stimmung bei. Unten auf dem Platz hat sich das Partygeschehen mittlerweile um eine überdimensionierte rote Vase von Pipilotti verlagert, aus der ein Baum wächst. Die Stimmung ist aufgekratzt, bisweilen ertönen «All cops are bastards»-Rufe.

Unterwegs auf dem Platz ist auch die neue Stadtpräsidentin, Maria Pappa von der SP. Zwei Stunden lang hat sich die gelernte Sozialpädagogin mit Jugendlichen unterhalten. (Man versuche sich das gleiche Verhalten von ihren Zürcher ParteikollegInnen Corine Mauch oder gar Mario Fehr vorzustellen.) Pappas Eindruck: «Die meisten Jugendlichen sind frustriert und wollen sich wieder frei fühlen. Das kann ich verstehen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie toleriert werden, wenn sie nicht provozieren. Aber die Stimmung kann jederzeit kippen.» Just als die Stadtpräsidentin das sagt, zündet eine Petarde. Jugendliche werfen Absperrungen einer Baustelle und brennbare Gegenstände in Richtung Polizei. Diese antwortet mit Tränengas und Gummischrot.

Die NewsjournalistInnen, die mit ihren Livestreams nur darauf gewartet haben, dass endlich etwas passiert, empören sich nun in ihren Schlagzeilen bigott über irgendwelche Chaoten. Aber die Dynamik ist komplizierter. Einige haben die Stimmung angeheizt, viele machen mit. «Hast du gesehen, mein Wurf mit der Jägi-Flasche?», ruft einer seinem Kollegen zu, als sei Gewalt bloss ein Spass. Die Menge wogt vor und beim nächsten Tränengasgeschoss zurück. Einer schleppt einen riesigen Stoffteddy, der immer wieder aus dem Nebel auftaucht. Irgendwann macht sich der Bär durch den Hauptbahnhof davon.

Die Massenwegweisung

Für Ostersonntag wird von Unbekannten erneut zum Krawall aufgerufen: «Sie münd merkä, das mir es ernst meined», heisst es. Nachdem der Stadtrat bisher auf Dialog setzte und die Polizei verhältnismässig agierte, bewährt sich nun einmal mehr die alte Weisheit von Karl Kraus: Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht.

Erst appelliert der Stadtrat an die Eltern: «Lassen Sie Ihre Kinder nicht nach St. Gallen!» Dann riegelt die Polizei die ganze Stadt ab, spricht am Hauptbahnhof und andernorts 500 Wegweisungen gegen Jugendliche aus. Diese dürfen für dreissig Tage nicht mehr in der Freizeit nach St. Gallen kommen, obwohl einige der Kontrollierten in der Stadt wohnen. AugenzeugInnen berichten, dass die Wegweisungen ohne Nachfragen willkürlich verteilt wurden. Grundrechtlich besonders fragwürdig ist die lange Dauer der Wegweisungen. Stadtpräsidentin Pappa rechtfertigt den harten Einsatz: Damit sei die Gewaltspirale durchbrochen, auch wenn die gesellschaftliche Situation nicht entschärft worden sei.

Das Wegweisungsgesetz wurde in St. Gallen Mitte der nuller Jahre in Kraft gesetzt, als im Bleicheli wie in anderen Quartieren zahlreiche Freiräume aufgewertet wurden. So gesehen, erzählen die St. Galler Osterkrawalle nicht nur davon, dass ein Teil der Jugendlichen die Coronamassnahmen nicht mehr ertragen mag. Sondern auch, über die Pandemie hinaus, was die Innenstädte zu bieten haben, wenn der sanfte Mantel des Konsums wegfällt: Gewaltausbrüche und Gummischrot in Pipilottis Gummizelle. Und Wegweisungen der eigenen Kinder.

Nachtrag vom 12. August 2021 : St. Galler Polizei vor Strafverfahren

Die «Osterkrawalle» der coronamüden Jugend in St. Gallen haben für die Polizei ein juristisches Nachspiel. Die kantonale Anklagekammer hat einer Eröffnung eines Strafverfahrens gegen die angezeigten Polizisten zugestimmt. Damals sprach die Polizei 650 Wegweisungen aus. Die betroffenen jungen Menschen durften für dreissig Tage nicht mehr in die Stadt.

Gegenüber der WOZ berichteten AugenzeugInnen, dass die Wegweisungen ohne Nachfragen willkürlich verteilt worden seien. Ein junger Mann liess sich dies jedoch nicht gefallen. Er erstattete Anzeige gegen die Polizei.

Was war an jenem Ostersonntag nach den Ausschreitungen vom Karfreitag genau geschehen? Die Polizei griff am Wochenende rigoros durch, um weitere Krawalle zu unterbinden. Der junge Mann sass in einem Lokal im Stadtzentrum. Weder habe er an den Kundgebungen teilgenommen, noch habe er den Eindruck gemacht, sich beteiligen zu wollen, heisst es in der Mitteilung der Anklagekammer. Laut dem Kläger wurde das Lokal von PolizistInnen in Vollmontur umstellt. Dann hätten sie die Gäste «ohne jegliche Erklärung» kontrolliert. Der junge Mann sagt, er hätte ein Blatt ausfüllen und unterschreiben sollen. Als er die Unterschrift verweigert habe, habe ihm die Polizei eine Verhaftung angedroht. Trotz wiederholter Nachfrage hätten ihm die Polizisten keine Rechtsgrundlage für die Wegweisung genannt, worauf sich der Mann später bei der Stadtpolizei beschwerte und die Wegweisung per E-Mail aufgehoben wurde.

In seiner Anzeige wirft der Mann den Polizisten Nötigung, Falschbeschuldigung und Amtsmissbrauch vor. Die Anklagekammer hält fest, dass die hohe Zahl der Wegweisungen «wenig differenziert» wirke. Im Strafverfahren sei «insbesondere der Vorwurf des Amtsmissbrauchs näher zu prüfen».

Andreas Fagetti