Schweizer Asylpolitik: Ueli der Grenzwächter
Simonetta Sommaruga erklärte das Gesetz, dann liess Ueli Maurer die Drohnen steigen: Wie die Schweiz so verschlossen wurde, dass Flüchtlinge sie meiden.
An ihrem sommerlichen Austausch mit der Bundeshauspresse zeigte sich Justizministerin Simonetta Sommaruga besorgt um die Flüchtlinge in Como: «Es ist schwer erträglich, solche Zustände zu sehen.» Nun gilt als Faustregel der Migrationspolitik, dass an der Grenze nur sichtbar wird, was andernorts beschlossen wurde. Will man verstehen, was zur Situation der Flüchtlinge in Como geführt hat, blättert man am besten im amtlichen Bulletin zurück. Im Ständerat sagte Sommaruga im Dezember letzten Jahres: «Wenn Sie das Schweizer Dispositiv an der Grenze mit dem vergleichen, was zum Beispiel Deutschland oder Österreich macht, dann sehen Sie: Wir machen genau das.» Deutschland, Österreich und fünf weitere Schengen-Mitglieder hatten letztes Jahr aufgrund des Flüchtlingstrecks durch Osteuropa Personenkontrollen an den Binnengrenzen eingeführt. Weil sie nicht Mitglied der Europäischen Zollunion ist, hatte die Schweiz solche nie vollständig aufgegeben. Bei einem Verdacht könne das Grenzwachtkorps (GWK) weiterhin Personen kontrollieren, erklärte Sozialdemokratin Sommaruga im Parlament. Häuften sich illegale Grenzübertritte, würden mobile Einheiten eingesetzt, insbesondere in Zügen.
Die Schweiz macht tatsächlich das Gleiche wie Deutschland oder Österreich – bloss muss sie weder Brüssel noch die Nachbarstaaten informieren, und auch die Öffentlichkeit erfährt wenig.
Auf der Stelle
Als oberster Grenzwächter amtet immer der Finanzminister. Seit SVP-Mann Ueli Maurer zum Jahresbeginn das Departement übernommen hat, scheint er stärker an der Grenze interessiert als am Geld. Für die «Schweizer Illustrierte» kontrollierte er schon im Frühling die Seegrenze auf dem Lago di Lugano: «Wir sind vorbereitet.» Anfang Juni fuhr Maurer nach Rom: Die Schweiz kam Italien bei Steuerfragen entgegen, dieses versprach eine erhöhte Präsenz an der gemeinsamen Grenze. Mitte Juni witterte Maurer eine neue Migrationsroute durch die Bündner Südtäler. Es blieb beim Gerücht. Das GWK hat trotzdem den Einsatz an der Südgrenze verstärkt. Am Fernsehen führte man Drohnen der Armee vor, die mit Wärmebildern Flüchtlinge aufspüren. Auch ein Super Puma kam zum Einsatz.
Wegen der wartenden Flüchtlinge in Como lassen die Asylzahlen vom Juli aufhorchen: zum einen, weil weniger Gesuche gestellt wurden als im Vorjahr, nämlich 2477 (Juli 2015: 3896), zum anderen, weil weit mehr Personen kontrolliert und abgewiesen wurden: Bei 7582 Personen wurde ein illegaler Aufenthalt festgestellt (Juli 2015: 2851). Bei 4149 Personen erfolgte eine Wegweisung (Juli 2015: 616). Wegweisungen sind gemäss Rückübernahmeabkommen mit Italien auf der Stelle möglich: Bittet eine Person ohne Papiere nicht um Asyl, wird sie nach Italien zurückgewiesen.
Wie lässt sich der massive Anstieg der Wegweisungen erklären? «In den vergangenen Monaten hat es keine Praxisänderung gegeben», betont das GWK. «Personen, die Schutz oder Asyl suchen, werden gemäss den geltenden Weisungen dem Staatssekretariat für Migration übergeben.» Eine Praxisänderung brauche es auch gar nicht, meint Constantin Hruschka, Leiter des Rechtsdiensts bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. «Die sogenannte Umgestaltung des Ressourceneinsatzes genügt vollauf.» Mehr Kontrollen ziehen mehr Abweisungen nach sich. Eine kürzere Dauer der Kontrollen kann zu vorschnellen Entscheidungen führen. Letztlich können chaotische Szenen wie jetzt in Como entstehen.
Im Staatssekretariat für Migration (SEM) will man sich nicht über die Arbeit der GrenzwächterInnen äussern. Als eine wichtige Ursache für den Anstieg der Abweisungen sieht man «das veränderte Verhalten von Eritreern»: Diese Flüchtlingsgruppe wolle nicht mehr hauptsächlich in der Schweiz, sondern in Deutschland oder weiteren Staaten um Asyl ersuchen. Sie tauche deshalb weniger bei den Asyl-, sondern mehr bei den Wegweisungszahlen auf.
Taub für Kritik
Gravierend sind die Vorgänge, die die Tessiner SP-Grossrätin Lisa Bosia Mirra in zahlreichen Fällen dokumentiert hat: Flüchtlinge seien zurückgewiesen worden, obwohl sie ein Asylgesuch stellen wollten, darunter Minderjährige. Selbst Lega-Regierungsrat Norman Gobbi hat Wegweisungen trotz Asylgesuch bestätigt. Beim GWK will man sich weiterhin an alle Regeln gehalten haben. Beim SEM verweist man auf die Asylgesuche im Juli, von denen die meisten aus dem Tessin stammen: «Die Schweiz hat die Grenze nicht geschlossen.» Ob die verstärkte Kontrolle an der Grenze oder das Ziel der Flüchtlinge, die Schweiz nur als Transitland zu benutzen: Beides ist Ausdruck einer Asylpolitik, die mehrheitlich auf Abschreckung zielt. Um nicht als «attraktiv» zu gelten, bricht die Schweiz mit der Genfer Flüchtlingskonvention, ausgerechnet in einem Moment, in dem sich die Schweiz als Asylland humanitär beweisen müsste. Das ist der Skandal von Como.
Constantin Hruschka von der Flüchtlingshilfe sieht eine echte Lösung nur in Absprachen mit den Nachbarländern, um den Schutzbedürftigen gemeinsam zu helfen. Amanda Ioset von Solidarité sans frontières fordert «dringend eine parlamentarische Kommission, die prüft, wie die Grenzwache arbeitet.» Mattea Meyer gehörte zu einer SP-ParlamentarierInnengruppe, die letzte Woche Como besucht hat. Es brauche grosszügigere Regelungen für Menschen, deren Angehörige in der Schweiz lebten, wie auch einen verstärkten Schutz für Minderjährige, meint die Zürcher Nationalrätin. «Ich erwarte, dass die Behörden Flüchtlingen das Recht garantieren, jederzeit ein Asylgesuch stellen zu können.» Am Zoll würde man ihnen am besten ein Formular in verschiedenen Sprachen verteilen, auf dem sie angeben können, ob sie Asyl beantragen wollen. «Wir müssen Asylgesuche erleichtern, statt sie zu erschweren.»