Offensive auf Mosul: Schlacht um die letzte Sunni-Heimstätte

Nr. 42 –

Eine Allianz von Armeen und Milizen mit ziemlich unterschiedlichen Interessen soll den sogenannten IS aus Mosul vertreiben. Ein Scheitern kann sich niemand leisten.

Die Soldaten sitzen schon seit fünf Uhr morgens auf ihren Lastern. Sie wirken müde und mitgenommen. Es ist später Nachmittag, als ihr kilometerlanger Konvoi an der Militärbasis von Machmur in der autonomen Region Kurdistan ankommt. «Nein, wir sind nicht müde», wiegelt einer der Soldaten ab und zeigt stolz auf das rote Wappen mit dem gelben Adlerkopf, das er am rechten Oberarm trägt.

Es ist das Zeichen der Goldenen Division, einer Elitetruppe der irakischen Armee. Sie kommt nur zum Einsatz, wenn eine Schlacht besonders wichtig ist. «Wir werden Mosul befreien und so viele IS-Terroristen wie möglich töten», ruft der Elitekämpfer. Der 24-Jährige ist einer von insgesamt 1500 Mann der Spezialeinheit, die sich an der Offensive auf die zweitgrösste Stadt des Irak beteiligen.

Was, wenn Hunderttausende fliehen?

Seit Monaten war der Angriff auf die letzte Hochburg der Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) im Irak angekündigt und wurde immer wieder verschoben. Für die irakische Armee ist es, nach Falludscha und Ramadi, die bisher grösste und komplizierteste Schlacht gegen den IS. Denn Mosul ist nicht nur als Millionenmetropole eine strategische und logistische Herausforderung. Das wohl grösste Problem ist der bunt zusammengemischte Haufen von Armeen und Milizen, die an der Offensive teilnehmen – mit meist völlig divergierenden Interessen.

Eigentlich soll der Angriff die Vernichtung des IS im Irak besiegeln. Doch die Offensive könnte auch in einem Desaster enden. Besonders bedroht sind dabei die rund 1,5 Millionen BewohnerInnen der Stadt. Sie könnten zwischen die Fronten geraten und vom IS als menschliche Schutzschilde benutzt werden. Aber selbst wenn sie es schaffen, rechtzeitig zu fliehen, ist keine der Hilfsorganisationen auf eine so grosse Flüchtlingszahl vorbereitet.

Eine grossflächige Zerstörung Mosuls ist deshalb auch für die Uno das Worst-Case-Szenario. «Wir hätten dann eine Massenvertreibung von Hunderttausenden von Menschen», sagt Lise Grande, die humanitäre Koordinatorin für den Irak. Ihr stehen nur 230 Millionen US-Dollar zur Verfügung. Das ist viel zu wenig, sie bräuchte mehr als das Doppelte. Bisher wurden zudem nur sechs Flüchtlingslager rund um Mosul gebaut, mit einer Gesamtkapazität von 50 000 Plätzen. Elf weitere Camps befinden sich im Bau. «Ohne die notwendigen Ressourcen können wir nicht mehr tun», sagt Grande.

Angst vor den Schiiten

Die Angriffstruppe setzt sich aus der irakischen Armee, Polizeieinheiten, Antiterrorkräften sowie den kurdischen Peschmerga und Milizen sunnitischer Stämme zusammen. Die Peschmerga kämpfen ausserhalb der Stadt, ebenso wie schiitische Milizen. Nach Mosul selbst sollen nur die irakische Armee und die sunnitischen Stämme vordringen. So wurde das zwischen Bagdad und Erbil in monatelangen Verhandlungen festgelegt.

Mit dieser Rollenverteilung will man ethnische Konflikte verhindern. Denn die sunnitische Bevölkerung der Stadt könnte sich gegen ihre BefreierInnen richten, sollten sie Schiiten oder Kurdinnen sein. Seit dem Sturz von Diktator Saddam Hussein 2003 fühlen sich SunnitInnen von den schiitischen Regierungen in Bagdad unterdrückt und marginalisiert. Die Invasion der IS-Terrormiliz war nur mit der Unterstützung der sunnitischen Minderheit möglich, die sich für erlittenes Unrecht revanchieren wollte.

Allein die Präsenz von schiitischen Milizen dürfte in Mosul deshalb Panik auslösen, da sie für Folter und Mord an SunnitInnen bekannt sind. Zuletzt haben diese Milizen bei der Befreiung der Städte Ramadi und Falludscha schreckliche Menschenrechtsverstösse begangen. Die kurdischen Peschmerga sind in Mosul genauso wenig willkommen. Sie gelten als Usurpatoren, die sich nur mehr Land aneignen und dafür die arabische Bevölkerung vertreiben wollen.

«Niemand wird mehr sicher sein»

Hinzu kommt: Die sunnitischen Stämme, die ihre Stadt zurückerobern sollen, sind untereinander zerstritten. Ein Teil steht unter der Kontrolle von Bagdad, ein anderer hält es mit der Türkei. Erst im Lauf der vergangenen Woche hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Anspruch erhoben, sein Land müsse in Mosul mit von der Partie sein. «Für die Türkei geht es um nationale Interessen», sagt Asil al-Nudscheifi, der ehemalige Gouverneur von Mosul. Seine 4500 Mann starke Sunnitenmiliz wird von der Türkei trainiert und finanziert. «Ankara hatte vor der Zeit des IS in Mosul sehr viel Einfluss», erläutert Nudscheifi. «Die Türkei möchte das alles nicht verloren wissen.»

Für den Exgouverneur entscheidet sich bei der Schlacht nicht nur das Schicksal seiner Stadt. «Es geht um die Zukunft des gesamten Irak», glaubt er. Denn sollte die Offensive schiefgehen und Mosul zerstört werden, hätten sunnitische AraberInnen ihre letzte Heimstätte verloren. «Sollten wir unsere Universitäten, Märkte und Wohnhäuser, also unsere gesamte Kultur dort verlieren und zu Flüchtlingen werden, ist niemand mehr im Irak sicher.» Seiner Meinung nach wäre ein derartiges Desaster gleichbedeutend mit der Neugeburt des IS oder einer anderen, nicht minder radikalen islamistischen Gruppe. «Bagdad und Erbil kämen dann nicht mehr zur Ruhe.»