Basel-Stadt: Ein Sensorium für die kleinen Dinge
Rot-Grün dominiert schon seit Jahren: Mit der BastA!-Politikerin Heidi Mück könnte nun aber erstmals seit siebzig Jahren auch eine Vertreterin links von der SP in die Basler Regierung gewählt werden.
Von weitem sichtbar kreist das Riesenrad in den Himmel über dem Münsterplatz. Es ist was los in Basel. Herbstmesse. Und auch auf der anderen Rheinseite, rund um den Messeturm: Karussells, umtriebiges Gedränge.
Ein paar Tramstationen nordwärts spürt man nichts vom Trubel. Die zielstrebige Frau, die uns beim Wiesenplatz zuwinkt, ist fast die einzige Passantin auf weiter Flur. In diesem Stadtteil mit den Quartieren Klybeck und Kleinhüningen lebt Heidi Mück seit bald dreissig Jahren. Von hier aus blickt sie in die Stadt.
Sollte Mück im zweiten Wahlgang am 27. November in den Regierungsrat gewählt werden, wäre erstmals seit siebzig Jahren, als der SP-Regierungsrat Carl Miville zur Partei der Arbeit wechselte, eine Partei links von der SP in der Kantonsregierung. Und das, obwohl die «Basler Zeitung» («BaZ») seit ihrer Übernahme durch Christoph Blocher vor sechs Jahren systematisch am Sturz der rot-grünen Mehrheit arbeitet.
Vergeblich. Schon nach dem ersten Wahlgang von vorletztem Wochenende war klar: Der «bürgerliche Schulterschluss» funktioniert nicht. Statt wie von rechts erhofft vier Sitze könnten demnächst gar nur zwei von sieben Regierungsratsposten bürgerlich besetzt sein. Allgemeine Konsternation auf der rechten Seite. Und Reaktionen wie die Ankündigung des LDP-Grossrats André Auderset, sein Haus in der Stadt zum Verkauf auszuschreiben, um nach Baselland auszuwandern, falls Mück gewählt werden sollte.
Basel von unten
Die Welt, aus der die 52-jährige Heidi Mück kommt und in der sie sich bewegt, hat wenig mit dem glamourösen Basel zu tun. Als Tochter eines Kochs aus Österreich und einer Buffetangestellten aus dem Jura, die sich zur Geschäftsführerin eines Cafés hochgearbeitet hatte, wuchs Mück im «Gundeli» (Gundeldingen) beim Bahnhof SBB auf. Zwar hat sie nach dem Gymi kurz Musikwissenschaft und Kunstgeschichte studiert – doch eine akademische Laufbahn lag ihr fern. Stattdessen begann sie früh, sich politisch zu engagieren.
Mück ist ein Kind der Achtzigerbewegung. Und ist es geblieben. Nach wie vor steht sie mit jungen AktivistInnen in Kontakt. Bis heute lebt sie in einer Hausgemeinschaft im Quartier Kleinhüningen nahe der deutschen Grenze, das im «Tages-Anzeiger» unlängst als der «Abfallkübel von Basel» bezeichnet wurde. Und bis heute setzt sie sich für Familien aus ärmeren Verhältnissen ein, von denen in Kleinhüningen und im Klybeck besonders viele leben.
Als Mutter von drei Söhnen weiss Mück, wie schwierig es ist, berufliche und familiäre Verpflichtungen unter einen Hut zu bringen. Sie weiss, wovon sie spricht, wenn sie sich für die flächendeckende Einführung von Tagesschulen einsetzt. Nach einer Ausbildung zur Gymnastiklehrerin arbeitete sie als Rhythmiklehrerin in Kleinklassen. Danach vertrat sie als Bildungssekretärin beim VPOD Region Basel fast zwanzig Jahre die Interessen der LehrerInnen. In den letzten Jahren hat sich Mück hauptberuflich für bessere Lebensbedingungen von MigrantInnen eingesetzt: Beim Forum für die Integration der Migrantinnen und Migranten war sie auch für die «Migrantensession in der Region Basel» verantwortlich. Seit gut einem Jahr ist Mück tagsüber wieder mehr im Gundeli – als Geschäftsleiterin der Fachfrauen Umwelt.
Irritation ausgelöst hat, dass Mück 2010 einen Aufruf der Schweizer BDS-Bewegung zum Boykott von israelischen Produkten unterschrieb. In einer Replik in der «BaZ» hat Mück das bestätigt. Zugleich stellte sie klar, nie Mitglied oder Anhängerin der BDS gewesen zu sein und sich in keinem Fall für den Boykott von Kulturschaffenden aus Israel ausgesprochen zu haben: «Mir ging und geht es um ein gleichberechtigtes Miteinander aller Menschen in Israel/Palästina und darüber hinaus», schrieb sie.
Nahe bei den Leuten
Im Vorbeigehen an Genossenschaftshäusern und eher trostlosen Wohnblöcken zitiert Mück aus der Klybecker Quartierstatistik: Über fünfzig Prozent der BewohnerInnen haben keinen Schweizer Pass; Einkommen, Vermögen und Wohnfläche pro Person liegen deutlich unter dem städtischen Schnitt, derweil die Sozialhilfequote fast doppelt so hoch ist. Und während in der ganzen Stadt über 40 Prozent der Jugendlichen ein Gymnasium besuchen, sind es im Klybeck nur 23 Prozent.
«Chancengleichheit» ist eines der Schlüsselwörter, die Mück an diesem Nachmittag ausspricht. Auch jetzt, da wir vor dem Ackermätteli stehen, einer Tagesschule mit heilpädagogischen Spezialangeboten. Die flächendeckende Einführung von Tagesschulen wäre ein Punkt, für den sich Mück als Erziehungsdirektorin einsetzen würde. Ebenso für die Wiedereinführung von Kleinklassen zur Förderung benachteiligter Kinder. Und auch dafür, dass der administrative Aufwand für LehrerInnen reduziert würde: «Die Lehrkräfte sollen sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren können.»
Ob es um den Spielpavillon beim Ackermätteli geht, für den sich Mück als Teil der Begleitgruppe eines Mitwirkungsprozesses eingesetzt hat, oder um den Kinderliteratur-Bus in Kleinhüningen, der inzwischen stadtweit unterwegs ist: Mück hat ein Sensorium für scheinbar kleine Dinge, die die Lebensqualität in einem Quartier nachhaltig verbessern. «Kleine Sachen eben, die viele zuerst gar nicht so richtig bemerkt haben – die wohl aber doch auch dazu beigetragen haben, dass ich so viele Stimmen erhalten habe», sagt Mück.
Die Regierungsratskandidatin hat eine Street Credibility, die über die linke Szene hinausgeht – gerade auch bei den Jungen. Die Bürgerlichen zogen daher schon mal die Notbremse: Sicherheitsdirektor Baschi Dürr (FDP) hat seine Kandidatur für das Präsidium zurückgezogen, um sich auf seine Wiederwahl als Regierungsrat konzentrieren zu können. Zuvor soll es hinter den Kulissen gar Gespräche gegeben haben, den SVP-Kandidaten Lorenz Nägelin zurückzuziehen – wenn die Linke im Gegenzug auf Mück verzichtet.
Politik als alltagspraktische Aufgabe: Das wäre ein Titel, den man über ein Porträt von Heidi Mück setzen könnte. Wie zum Beispiel lässt sich der Zugang der Klybecker Bevölkerung zu Freiräumen verbessern? Mück hat dazu im Grossen Rat einen Antrag für den Bau einer Passerelle über die Hafenbahngleise gemacht, die den Zugang zu den Freiräumen am Rhein und ans Wasser öffnen würde – zu teuer, war die Antwort des Regierungsrats.
Weiter südlich, auf dem Klybeckareal, könnte theoretisch vieles von dem, was Mück vorschwebt, realisiert werden: günstige Wohnungen, Freiraum, soziale, kulturelle und pädagogische Einrichtungen. Auf einer Gesamtfläche von 300 000 Quadratmetern inklusive der Fabrikations-, Labor- und Bürogebäude des Chemiekonzerns BASF, die weitgehend leer stehen, will der Kanton mit den Grundeigentümerinnen BASF und Novartis «ein neues Stück Stadt entwickeln». Mück ist skeptisch: «Meine Vorstellung von Stadtentwicklung ist, dass ein Quartier organisch wachsen kann. Das Gegenteil von ‹Rheinhattan›, wo ein Quartier aus dem Boden gestampft werden soll.»
Dass die Stadt mehr Wohnungen braucht, steht für Mück ausser Frage: «Wie gross die Wohnungsnot ist, zeigt die steigende Zahl an Obdachlosen, die die Anlaufstelle Schwarzer Peter als Meldeadresse brauchen.» Umso mehr hofft Mück, die auch als Mietervertreterin bei der Schlichtungsstelle für Mietstreitigkeiten fungiert, dass die kantonale Initiative «Recht auf Wohnen» Erfolg haben wird.
Und die Kompromissbereitschaft?
Wir stehen vor der Dreirosenbrücke. Daneben ragt das Bürohochhaus der BASF auf, in dem, wie es scheint, nur noch die unteren Stöcke besetzt sind. Am anderen Ende der Brücke erwartet uns der Novartis-Campus. Für Mück ein Mahnmal dafür, wie Stadtentwicklung auf keinen Fall verlaufen sollte: die Überführung des öffentlichen Raums in den privaten Besitz eines Grosskonzerns.
Stellt sich die Frage: Wie hält es Mück mit der Pharmaindustrie, dank der auch der Finanzhaushalt des Stadtkantons so gut dasteht? Wäre sie bereit, die unternehmenssteuerreformerische Finanzpolitik ihrer Kollegin Eva Herzog mitzutragen? In der «TagesWoche» hat Mück schon mal eine Antwort geliefert: «Wir müssen ja keine Busenfreundinnen werden. Ich kämpfe nicht mehr einfach gegen das System, ich versuche, kleine Verbesserungen herauszuholen, die den Menschen direkt zugutekommen.»
Letztlich sei es immer noch ihre Vision, dass der Kapitalismus überwunden werde. Als Realpolitikerin jedoch konzentriere sie sich auf das Machbare. Die Kraft der kleinen Veränderungen: Daran glaubt Mück. Und dass es Sinn hat, auf eine Gesellschaft hinzuarbeiten, «in der die Menschen dazu befähigt sind, ihr Zusammenleben selbst zu gestalten».