Kleine Verwahrung: «Das ist wie bei einem Auto ohne Bremsen»

Nr. 36 –

Im Parlament sind mehrere Vorstösse zur Verschärfung der Verwahrung hängig. Dabei missachte bereits die heutige Praxis rechtsstaatliche Grundsätze und habe sich von der Strafrechtstradition der Aufklärung verabschiedet, sagt der Zürcher Anwalt Stephan Bernard.

WOZ: Stephan Bernard, Sie vertreten verwahrte Straftäter. Wie viele sind es aktuell?
Stephan Bernard: Zehn bis zwölf Leute, viele davon in Nachverfahren.

Nachverfahren?
Diese Klienten sind meistens nach Artikel 59 Strafgesetzbuch in einer stationären Massnahme, der sogenannten kleinen Verwahrung, wo sie therapiert werden sollten. Diese Massnahme kann immer wieder verlängert werden, sodass die Leute nie wissen, wann und ob sie überhaupt jemals wieder rauskommen. Die Verlängerung der Massnahme wird von einem Gericht im sogenannten Nachverfahren angeordnet. Als Anwalt braucht man hier einen langen Atem. Das Frustrationspotenzial ist beträchtlich. Wirtschaftlich sind diese Fälle auch nicht lukrativ.

Warum tun Sie es dann?
Die Art, wie eine Gesellschaft mit denjenigen umgeht, die als Schwerverbrecher etikettiert sind, ist ein guter Massstab, um festzustellen, wie die gesellschaftlichen Zustände effektiv sind. Da zeigt sich – wie in kaum einem anderen Bereich – die rechtsstaatliche Qualität eines Justizsystems. Deshalb ist hier auch ein ganz besonders pointiertes anwaltliches Engagement nötig. Anders ausgedrückt: Vor dreissig, vierzig Jahren hätte ich wahrscheinlich sogenannte Terroristen verteidigt – das Pendant dazu sind heute die Leute, die im Massnahmenvollzug sitzen.

Wann haben Sie begonnen, Verwahrte zu verteidigen?
Das war vor etwa zehn Jahren. Ich bin reingerutscht. Es war ein Fall, den ich sehr stossend fand. Der Mann wollte seine verordnete Massnahme antreten, musste aber sehr lange warten.

War er in einem normalen Gefängnis?
Ja. Er hing da in einer Warteschlaufe, und ich brachte ihn fast nicht in eine Massnahmeneinrichtung.

Ist er heute in Freiheit?
Ja.

Was genau ist frustrierend?
Das Gefühl, das Massnahmenrecht sei wie ein Auto ohne Bremse. Wenn jemand ein Restaurant eröffnen möchte, gibt es ein Korsett von Vorschriften, die er einhalten muss. Die Normierungsdichte in unserer Gesellschaft ist enorm hoch. Aber ausgerechnet dort, wo es um den stärksten Eingriff geht, den unsere Gesellschaft kennt – den unbegrenzten Freiheitsentzug –, gibt es kaum belastbare gesetzliche Normen, auf die man sich als Anwalt berufen kann. Unsere Aufgabe als Verteidiger ist die Konfrontation, das Insistieren auf dem Recht. Das Massnahmensystem ist aber so angelegt, dass die Leute nur rauskommen, wenn sie sich unterwerfen. Das System unterminiert damit die Verteidigung und zwingt zur Anpassung. Was wir da haben, ist eine Entwicklung in Richtung zwangsweiser Anleitung zur Selbstführung statt dem herkömmlichen Strafen. Es führt dazu, dass die Verteidigung erschwert und zum Teil ganz verunmöglicht wird.

Stephan Bernard, Anwalt

Wenn das Gefängnis Ihre Mandanten anleitet, sich selber zu disziplinieren und zu bestrafen, und Sie sie deswegen nicht mehr verteidigen können, was tun Sie dann?
Man muss andere Techniken als in der klassischen Verteidigung anwenden und sehr einzelfallbezogen arbeiten. Wir müssen diese Mandanten teilweise fast mehr coachen als verteidigen.

Sie als Anwalt müssen also dem eingesperrten Klienten beibringen, dass er sich wohlverhält, auch wenn er keine Lust hat, mit dem System zu kooperieren?
In der Tat ist die Frage hier ständig: ‹Ziehe ich jetzt da den Schuh zurück, oder halte ich ihn in die Tür?› In einem normalen Strafprozess kann man als Anwalt, wenn man juristisch ein Einfallstor sieht, den Fuss immer in die Tür halten. Weil ja die Unschuldsvermutung gilt und es einigermassen austarierte Verfahrensregeln gibt. Im Massnahmenvollzug ist es anders. Auch wenn ich der Meinung bin, es müsste hier als Pendant zur Unschuldsvermutung eine sogenannte Ungefährlichkeitsvermutung geben.

Gilt im Massnahmenvollzug, wer renitent ist, per se als gefährlich oder untherapierbar?
Ja, das lässt sich derzeit nicht wegdiskutieren. Das macht die Verteidigungsarbeit auf der taktischen Ebene zwar spannend, rechtsstaatlich halte ich es aber für höchst problematisch. Dieses Schachspiel findet nach Regeln statt, die nicht mehr viel mit der Strafrechtstradition der Aufklärung zu tun haben.

Nehmen wir einen konkreten Fall: Ein Mann wurde wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Er bestreitet bis heute, jemals etwas Strafbares getan zu haben. Deshalb gilt er als untherapierbar und sitzt seit über zwanzig Jahren im Gefängnis. Wie würden Sie mit einem solchen Mandanten umgehen? Sagen Sie ihm, er soll die Therapie trotzdem machen, weil er sonst nie mehr rauskommt? Aber wenn er behauptet, er sei unschuldig, ergibt die Therapie kaum Sinn, selbst wenn er doch Kinder geschändet hat.
Das ist ein Widerspruch, den die Justiz nicht auflösen kann – und ich auch nicht. Ich sehe meine Aufgabe auch nicht darin, Widersprüche, die das Recht produziert, vermeintlich aufzulösen.

Was sagen Sie denn zu einem solchen Klienten?
Ich versuche, ihm aufzuzeigen, wie die Realität ist und was seine Risiken sind. Wenn er sich einer Therapie verweigert, kann er nachträglich definitiv in der Verwahrung landen. Oder er lässt sich – obwohl er seine Unschuld beteuert – darauf ein; Ausgang ungewiss. Ich kann in einem solchen Fall nur aufzeigen, was die Vor- und Nachteile der einen oder anderen Strategie sind. Mehr nicht.

Wie viele Leute haben Sie schon rausgeholt?
Da müsste ich nachzählen, mehr als eine Handvoll sind es. Konkret ist es so, dass ich erst seit fünf, sechs Jahren eine solche Menge von diesen Mandaten haben. Sehr viele Fälle sind noch nicht abgeschlossen, obwohl sie schon Jahre dauern. Die Frage ist, wie man Erfolg definiert: Wenn man die zählt, die heute in Freiheit sind, ist die Erfolgsquote eher klein. Wenn Erfolg als «nicht definitiv weggeschlossen» definiert wird, ist sie gross. Und genau das zeigt, wie das System funktioniert. Die Leute werden im Ergebnis ad infinitum, also unbegrenzt weggesperrt.

Diese Leute werden ja zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die «zugunsten einer Massnahme» aufgeschoben wird. Dauert eine Massnahme viel länger als die Strafe?
Alle, die ich rausbrachte, sind wesentlich länger in der Massnahme gesessen, als die schuldangemessene Strafe gedauert hätte, teilweise um das Vierfache der Zeit. Die Schwierigkeit ist, dass man als Anwalt vier, fünf Jahre auf diesem komplexen Gebiet tätig sein muss, um überhaupt die Erfahrung zu erwerben, die nötig ist, um den Klienten im jeweiligen Einzelfall wirklich sinnvoll beraten zu können. Diese Erfahrung hatte lange nur ein einziger Anwalt in der Schweiz.

Wer?
Matthias Brunner aus Zürich. Inzwischen gibt es vielleicht knapp zehn Anwälte, die ausreichend erfahren sind. Das Problem ist aber: Es gibt keine vom Staat bezahlte Dauerverteidigung im Massnahmenvollzug, sondern nur bei Verfahren oder Rechtsmitteln – wenn es also zum Beispiel darum geht, ob eine Massnahme verlängert werden soll.

Wenn Sie Ihren Klienten sonst in der Massnahme betreuen, machen Sie das gratis?
Ja, das zahlt oft niemand. Es ist aber sehr wichtig, damit die Klienten keine Fehler machen. Ein Gefängnis oder ein Massnahmenzentrum neigt zu einem totalen Überwachungssystem. Jede unbedachte Äusserung, die ein Insasse gegenüber einem Aufseher oder Sozialarbeiter macht, kann ihm Monate oder Jahre später in einem Gutachten oder einer Urteilsbegründung auf den Fuss fallen. Jede, wirklich jede!

Gibt es auch Klienten, die Sie nicht vertreten?
Ja. Aber nicht wegen des Delikts.

Sie würden also auch einen Sadisten verteidigen, der grausam Kinder getötet hat?
Es gibt für mich keine prinzipielle Deliktsgrenze. Aber es gibt immer wieder Situationen, in denen ich ein Mandat aus persönlichen oder emotionalen Gründen nicht führe. Und vor allem wegen meiner begrenzten Zeitressourcen muss ich viele Anfragen ablehnen.

Psychiatrische Gutachten entscheiden heute, ob jemand drinbleibt oder rauskommt. Wie ist Ihr Verhältnis zur forensischen Psychiatrie?
Ich pflege kein Feindbild forensische Psychiatrie. Die Justiz müsste die Psychiater kontrollieren, macht dies aber oft zu wenig. Letztlich sind es aber auch nicht einfach die Richter, die versagen. Es ist das gesamtgesellschaftliche Klima, das zur heutigen Situation geführt hat. Aus einer Anwaltskanzlei heraus donnert es sich leicht. Ich beneide die Entscheidungsträger nicht, habe höchsten Respekt vor Psychiatern und Richtern, die versuchen, diesem Zeitgeist zu trotzen und sich nicht instrumentalisieren lassen. Denn innerhalb des Systems eine kritische Haltung zu bewahren, ist für sie schwieriger als für mich als Anwalt. Dessen muss man sich bewusst sein, sonst wird man selbstgerecht.

Es könnte sein, dass Sie jemanden rausholen, der rückfällig wird …
Wenn man Leute wieder in Freiheit lässt, kann es immer Rückfälle geben. Wenn man möglichst alle Delikte verhindern möchte, muss man alle Männer zwischen vierzehn und vierzig einsperren, präventiv – ohne dass sie etwas gemacht haben. Das kann man machen. Die Gesellschaft muss sich aber meines Erachtens fragen: Wie viele «false positives» erträgt es, um einen «false negative» zu erwischen …

… «false positive» wären die Leute, die weiterhin eingesperrt bleiben, obwohl sie nicht mehr rückfällig würden, nur damit man den einen, der wirklich rückfällig wird, sicher nicht freilässt. Wie viele erträgt es?
Das lässt sich nicht mathematisch definieren, sondern ist eine Güterabwägung, die in jedem Einzelfall gemacht werden muss. Wenn man aber die Unschuldsvermutung ernst nimmt oder den Grundgedanken, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient – eine Art übergeordnete Ungefährlichkeitsvermutung –, dann ist offenkundig, dass hier etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Es gibt deutsche Untersuchungen, die zeigen, dass es viel mehr «false positives» gibt, als wir meinen.

Was macht die kleine Verwahrung physisch und psychisch mit den Leuten?
Ist sie gesund? Sicher nicht. Aber letztlich geht es um die Frage, ob man daran glaubt, dass das Gefängnis eine heilende Wirkung hat oder nicht. Die empirische Forschung beantwortet das in der Tendenz klar negativ. Strafen und kleine Verwahrungen sind kein Medikament, dessen Dosis man beliebig erhöhen kann, und dann wird die Welt besser. Bei der kleinen Verwahrung kommt hinzu, dass die Leute nicht wissen, wann sie rauskommen. Ein Staat, der laufmeterweise Gesetze und Verordnungen zu Bagatellthemen erlässt, aber kleine Verwahrungen nur rudimentär regelt, stellt seine Rechtsstaatlichkeit grundlegend infrage.

Was müsste sich ändern, um die Situation zu verbessern?
Eine Massnahme nach Artikel 59 des Strafgesetzbuchs müsste in einem klaren Verhältnis zur schuldangemessenen Strafe sein. Sie dürfte zum Beispiel höchstens gleich oder von mir aus auch doppelt so lang sein. Aber es müsste klar limitiert werden. Dann braucht es zusätzlich eine absolute zeitliche Limitierung der Massnahme. Auch die Flexibilisierung des Massnahmenrechts muss aufhören.

Das verstehe ich nicht.
Es darf nicht sein, dass während des Vollzugs die Massnahme verschärft werden kann.

Können Sie ein Beispiel geben?
Jemand sitzt in einem Massnahmenzentrum in der kleinen Verwahrung und hat regelmässig Freigang. Nun opponiert er gegen Anordnungen der Anstaltsleitung und gegen die Therapie. Als Sanktion wird beim Gericht die Umwandlung in eine dauerhafte Verwahrung beantragt – und am Ende allenfalls sogar angeordnet. Dieses System verletzt das Doppelbestrafungsverbot und das Verhältnismässigkeitsprinzip. Man darf für eine Tat nur einmal bestraft werden.

Und das Verhältnismässigkeitsprinzip bedeutet, dass – wenn aus öffentlichem Interesse die Freiheitsrechte von jemandem beschnitten werden – von den möglichen Massnahmen immer die mildeste gewählt werden muss.

Was müsste sich sonst noch im Massnahmenrecht ändern?
Es müsste detaillierte Regeln geben über den Umgang zwischen Justiz und forensischer Psychiatrie. Und – ganz wichtig – ein Verwahrter müsste wegen der Tragweite seiner Situation dauerhaft eine Verteidigung bezahlt bekommen.

Wäre der Anwalt dann auch dabei, wenn der Psychiater den Verwahrten begutachtet?
Ganz klar, das Teilnahmerecht bei Gutachten müsste gewährleistet sein.

Dann wäre alles wieder in rechtsstaatlichen Bahnen?
O nein, es gäbe noch zahlreiche unabdingbare Forderungen, um zu einer echten Rechtsstaatlichkeit zu finden, beispielsweise zum Beweisfundament bei der Verlängerung von Massnahmen. Aber wenn man schon nur einige zentrale Punkte realisieren würde, wären mindestens die gröbsten Missstände behoben.

Verwahrung

Rechtlich gesehen existieren unterschiedliche Formen der Verwahrung:

Artikel 59 des Strafgesetzbuchs (StGB) wird gerne als «kleine Verwahrung» bezeichnet. Diese Massnahme wird verhängt, wenn das Gericht StraftäterInnen für psychisch gestört, aber therapierbar hält. Es ordnet deshalb anstelle der Strafe, die relativ gering sein kann, eine «stationäre Massnahme» an, die in einem spezialisierten, offenen Massnahmenzentrum oder der Psychiatrie vollzogen wird. Die Massnahme muss alle fünf Jahre überprüft werden, kann aber unbeschränkt verlängert werden.

Artikel 59 Absatz 3 erlaubt es ausserdem, therapierbare Personen im normalen Strafvollzug unterzubringen, «solange die Gefahr besteht, dass der Täter flieht oder weitere Straftaten begeht».

Artikel 64 regelt die eigentliche Verwahrung. Das Gericht verhängt sie, wenn es davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit vor einer Person geschützt werden muss, weil diese als gefährlich respektive psychisch gestört und nicht therapierbar eingeschätzt wird.