Auf allen Kanälen: Diaspora-Journalismus

Nr. 5 –

Can Dündar hat sich in der Haft ein freies Denken bewahrt. Nun hat er ein deutsch-türkisches Onlineportal gegründet. Das Gleiche macht die Berliner «taz».

«Wer nicht gesessen hat, wird nicht Schriftsteller genannt.» Als er selbst im Gefängnis sitzt, erinnert sich Can Dündar, bis August 2016 Chefredaktor der türkischen Zeitung «Cumhuriyet», an dieses Sprichwort. Im Gefängnis hätten die SchriftstellerInnen ihren Stoff und ihre Sprache gefunden – bis die Regierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Gemeinschaftszellen durch Isolationshaft ersetzte: «Abzusehen ist, dass die Gefängnisliteratur der neuen Ära sich hauptsächlich als Prosa eines inneren Monologes, einer Abrechnung mit sich selbst darstellen wird.»

Dündar war 2015 unter dem Vorwurf der Spionage festgenommen worden, weil er über Waffenlieferungen des Geheimdienstes an islamistische Milizen berichtet hatte. Sein Buch «Lebenslang für die Wahrheit», geschrieben während der Haft, ist tatsächlich ein innerer Monolog. Doch die Lektüre bildet auch eine Anleitung zu einem frechen, mutigen Denken. Herrlich etwa die Szene, in der seine Anwälte zu einer politischen statt einer juristischen Verteidigung raten, weil sich die Regierung dann selbst erklären müsse: «Das klang nach Ausrufung der Revolution. Ich war begeistert.»

Käsetoast auf der Heizung

Daneben beschreibt Dündar Tricks aus dem Knastalltag, von der Kommunikation mit Mithäftlingen via Kanalisation bis zum Backen von Käsetoasts mithilfe der Heizung. Und er schildert, wie wichtig die Solidarität ist. Draussen vor dem Gefängnistor hält jeden Tag eine andere Person Wache auf einem Holzstuhl, um ihn zu unterstützen. Das Gefängnis wird für Dündar zu einem paradoxen Ort: Ausgerechnet in der Zelle hat er von der Regierung am wenigsten zu befürchten. Nach drei Monaten Haft kommt er frei. Als er beim folgenden Prozess nur knapp einem Attentat entkommt, flieht er nach Deutschland. Dündar ist nur der prominenteste Fall, doch er steht beispielhaft für die Mediensituation in der Türkei. Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands nach dem Militärputsch wurden 169 Radio- und Fernsehstationen, Zeitungen und Websites geschlossen, 150 JournalistInnen sitzen im Gefängnis.

«Das Land ist zum weltweit grössten Gefängnis für Journalisten geworden», schreibt Dündar – nicht mehr in seinem Buch, sondern auf dem Portal «Özgüruz» (Wir sind frei). Das Portal ist vergangene Woche gestartet und will künftig von Deutschland aus über die Situation in der Türkei berichten. Unterstützt wird es von der Rechercheplattform «Correctiv», finanziert ist es fürs Erste für sechs Wochen. Schon ein paar Tage früher nahm die «taz.gazete» ihren Betrieb auf. Finanziert von der Stiftung der linken «Tageszeitung» und LeserInnenspenden ist hier der Betrieb auf ein Jahr hin gesichert.

Unter dem Radar

Beide Portale berichten auf Deutsch und Türkisch, und auch ihre Ziele lesen sich ähnlich. Sie wollen vor dem Referendum vom April, mit dem Recep Tayyip Erdogan eine Präsidialdiktatur errichten will, möglichst kritisch informieren. Das Regime reagierte prompt. Dündars Seiten wurden in der Türkei schon einige Stunden, bevor das Portal seinen Betrieb aufnahm, blockiert. Das Portal der «taz» läuft bisher unter dem Radar der Zensur und löst in der Türkei zahlreiche Reaktionen aus, wie Projektleiterin Fatma Aydemir schildert: Das Portal sei in der regierungsnahen türkischen Presse als Projekt des Bundesnachrichtendiensts und als «Kriegserklärung» an den türkischen Staat denunziert worden, aber «gleichzeitig kriegen wir täglich Post von LeserInnen, die uns dafür danken, dass wir Geschichten bringen, die in der Türkei so nicht mehr erscheinen». Die Berichte reichen von Analysen zur Putschnacht bis hin zu Einreisetipps für TürkInnen nach Deutschland: «Welcome to Almanya».

Ein Besuch der beiden Portale lohnt sich auch für LeserInnen, die nur Deutsch können. Zum einen, weil sich Zentrum und Peripherie bei diesem Diasporajournalismus im Kreis drehen und sich neue Perspektiven öffnen: etwa wenn türkische JournalistInnen in Deutschland Angela Merkels «Flüchtlingsdeal» mit der Türkei kritisieren. Von einigen blumigen Formulierungen abgesehen, ist der Geist eines Journalismus spürbar, der sich nicht im Start-up-Formalismus ergeht, sondern aus politischer Dringlichkeit agiert. Oder wie antwortet Dündar im Buch so schön auf die Warnung seiner Anwälte, wegen der Enthüllung könne er ins Gefängnis kommen? «Gut, dann drucken wir.»

Can Dündar: «Lebenslang für die Wahrheit». Hoffmann & Campe. Hamburg 2016. 299 Seiten. 32 Franken.

www.gazete.taz.de, www.ozguruz.org