Durch den Monat mit Heidi Specogna (Teil 1): Hatten Sie nie Angst in den Kriegswirren?

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Heidi Specogna hat ihren neuen Dokumentarfilm «Cahier africain» mitten im Bürgerkrieg gedreht. Ein eigens geschneidertes Hemd mit Schweizer Kreuz hat ihr ein bisschen Sicherheit gegeben.

Heidi Specogna: «Die Gefahr war wie Quecksilber, man wusste nie, wo sie lauerte.»

WOZ: Heidi Specogna, Ihr Film «Cahier africain» sollte eigentlich von der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen in der Zentralafrikanischen Republik handeln: Ausgangspunkt ist ein Schulheft mit Zeugenaussagen von 300 Frauen, Männern und Kindern, die 2002 von kongolesischen Rebellen gequält und vergewaltigt wurden. Doch dann wurde in Zentralafrika erneut der Präsident gestürzt, und Sie fanden sich mitten in den Kriegswirren wieder. Warum sind Sie geblieben?
Heidi Specogna: Da gibt es einen ganz pragmatischen Grund: Ich musste einen Film nach Hause bringen. Ich konnte ja nicht in der Hälfte des Drehs abbrechen und nach Hause gehen.

Der wichtigere Grund war jedoch, dass ich mir Sorgen um meine Protagonistinnen gemacht habe. Für mich war klar, ich habe zwei Aufgaben zu erfüllen: einen Film realisieren und für meine Protagonistinnen, Amzine und Arlette, sorgen – in welcher Form auch immer.

Und konnten Sie zu ihnen schauen?
Nicht wirklich … Ich habe ihnen gegeben, was möglich war, Geld, Kleider, Essen. Ich habe über die Botschaften probiert, sie in Sicherheit zu bringen, aber es war unmöglich, es gab kein funktionierendes Telefonnetz mehr, die Banken waren geschlossen, es gab keine Autos mehr, die ganze Infrastruktur war zusammengebrochen.

Es gibt diese Einstellung im Film, in der Arlette, das christliche Mädchen mit dem kaputten Knie, auf der Strasse stehen bleibt, und wir fahren weg. In diesem Moment wusste ich nicht, ob ich sie jemals wiedersehen würde. Da bin ich emotional an meine Grenzen gestossen wie selten zuvor. Ich musste akzeptieren, dass es unmöglich war, das Mädchen ausser Landes zu bringen oder in ein anderes Quartier. Denn die Gefahr war wie Quecksilber, man wusste nie, wo sie lauerte, in welchem Quartier das Mädchen vor den muslimischen Rebellen sicher war.

Wie gehen Sie als Filmemacherin mit so einer Situation um?
Da gibt es keine einfache Lösung … Das eine ist das ökonomische Gefälle zwischen Afrika und dem Westen, das nicht von heute auf morgen zu ändern ist. Wir haben Zugang zu Bildung, Medizin – zu allem; und die Möglichkeit zu gehen. Sie nicht. Da musst du im Kleinen schauen, was du machen kannst. Wichtig finde ich, dass man bei der Zusammenarbeit auf gleicher Augenhöhe ist, dass es da kein Gefälle gibt. Dass man seine Filmpartnerinnen respektiert und schätzt, was sie leisten.

Sie filmten in Zentralafrika mitten in einem Bürgerkrieg: Menschen wurden getötet, Häuser geplündert, Moscheen zerstört. Hatten Sie nie Angst?
Ich habe erst im Nachhinein, als ich am Schneidetisch unsere Bilder sah, realisiert, welcher Wahnsinn um uns herum passiert war. Mein Kameramann Johann Feindt und ich waren vor Ort so konzentriert darauf, Bilder zu finden, dass wir keine Zeit für Angst hatten. Wir haben stets darüber nachgedacht, wie man den Zuschauern erklären kann, was hier los ist.

Natürlich ist das auch ein Schutzmechanismus. Ohne diesen wärst du komplett gelähmt und nicht in der Lage, überhaupt etwas zu machen. Doch der Zuschauer soll realisieren, was in einem Land wie der Zentralafrikanischen Republik tagein, tagaus passiert. Denn das sind die Geschichten, die hinter den Menschen liegen, die übers Mittelmeer nach Europa kommen. Davon zu erzählen, war eine Art Mission, die ich als Filmemacherin erfüllen wollte.

War es nicht gefährlich für Sie?
Da ich für meinen letzten Film schon sieben Jahre in Zentralafrika gedreht hatte, kannte ich mich sehr gut aus im Land, ich fühlte mich sicher. Meine grösste Sorge war, dass man uns für Franzosen halten könnte. Die Wut der Menschen dort richtete sich gegen die Franzosen, weil sie sich von diesen im Stich gelassen fühlten. Wir liessen uns bei einer kleinen Schneiderei Hemden machen mit einem grossen Schweizer Kreuz auf dem Rücken. Dieser Lappen hat mir diesbezüglich ein sicheres Gefühl gegeben. Jene, die nicht wussten, dass das ein Schweizer Kreuz war, dachten, wir seien vom Roten Kreuz. Das war auch okay.

Sie zeigen teilweise sehr explizite Bilder von ermordeten Menschen, die man als Zuschauerin kaum erträgt. Warum ist das nötig?
Es gibt die Szene, in der zwei tote Männer auf der Strasse liegen und die Kamera sich ihnen langsam annähert. Wir haben diese Szene sehr lange im Schneideraum diskutiert und daran gearbeitet. Ich suchte nach einer Form, die den Zuschauer Schritt für Schritt mit der Kamera mitgehen lässt und ihm die Möglichkeit offenlässt, auf halbem Weg stehen zu bleiben. Ich wollte den Tod nicht verkürzt als Zitat zeigen, sondern die Geschichte dieser Toten miterzählen: Man sieht, dass ihre Augen verbunden sind, dass ihre Schuhe fehlen, dass die Hosensäcke umgedreht sind.

Der allerwichtigste Punkt in der Überlegung war jedoch, zu zeigen, dass unsere Protagonistinnen solche Bilder jeden Tag sehen. Um Arlette zu verstehen, um zu verstehen, worüber sie spricht, muss man für einen Moment das erleben, was sie täglich erlebt.

Die Schweizer Dokumentarfilmerin Heidi Specogna (58) lebt in Berlin. Ihr Film «Cahier africain» ist für den Schweizer Filmpreis nominiert und läuft ab 2. Februar 2017 im Kino. Vorstellungen in Anwesenheit der Regisseurin: Luzern, Stattkino, Donnerstag, 2. Februar 2017, 19 Uhr; Biel, Filmpodium, Freitag, 3. Februar 2017, 20 Uhr; Winterthur, Cameo, Samstag, 4. Februar 2017, 19.45 Uhr.