Von oben herab: Anstandslos

Nr. 5 –

Stefan Gärtner über liberale Trump-Versteher

Dass Donald Trump in Europa keine Fans hätte, es stimmt ja nicht, und in die Reihe Le Pen–Petry–Orban–Wilders gehört nun auch Eric Gujer, topliberaler Chefredaktor der NZZ: «Auch Ronald Reagan wurde verfemt als seniler Staatsschauspieler und Kalter Krieger – bis er mit Michail Gorbatschow die Nukleararsenale abrüstete wie kein anderer Präsident. Geschichte wiederholt sich nicht. Und Trump ist nicht Reagan. Aber es schadet der Glaubwürdigkeit der Medien, wenn ihnen ein Feindbild wichtiger erscheint als ihr Informationsauftrag.» Und das in einem Blatt, dessen oberster Informationsauftrag ist, die entwickelte kapitalistische Gesellschaft als so naturgemäss wie wunderbar zu feiern und eine Welt der Freien und Gleichen als Feindbild auszumalen. Im Übrigen hat Reagan die Sowjetunion durch beispiellose Militäretats und die Stationierung von Pershings in Westdeutschland, direkt vor der russischen Haustür, zur Abrüstung erpresst; die Alternative, einen sowjetischen Präventivschlag, hat Gorbatschow der Welt erspart.

Aber seien wir fair: Ein Faschist ist Gujer nicht. Er weiss lediglich, dass Faschismus nicht irgendwas Fieses ist, das sich Gesellschaften einfangen wie Familienväter die Infekte des Sprösslings, sondern in der Natur der liberalen (nämlich kapitalistischen) Sache liegt. Faschismus ist nämlich bloss «die Fortsetzung des Kapitalismus mit terroristischen Mitteln» (Hermann L. Gremliza), zum Beispiel dann, wenn der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Habenden und Nichthabenden nicht mehr flächendeckend durch Sozialklimbim oder Billigfernreisen stillgestellt werden kann (oder, weils die Herrschaft zu teuer kommt, werden soll). An kapitalistischen Krisen muss der Jude schuld sein, die Migrantin, die Flüchtlingsfamilie, und wie viele Hunderte Milliarden die Bankenkrise die USA auch gekostet haben mag, in Haftung genommen wird die unbescholtene Muslima, die neuerdings am Einreiseschalter des JFK-Airports zurückgeschickt wird.

Dass Kapitalismus keine Solidaritätsveranstaltung ist und weder die Schweiz (c/o SVP) noch das mustermoralische Deutschland Grund haben, Trumps «America First» zu bejammern, ist für unsere Liberalen, die den Nationalstaat sozusagen erfunden haben, beileibe keine neue Nachricht. Gujer: «Trump verleiht dem Phänomen der Renationalisierung eine Stimme: rüde, rüpelhaft, ohne Rücksicht auf Anstand. Andere handeln auch so, aber sehr viel unauffälliger. An den Krisengipfeln zum Euro setzte Deutschland seinen Willen durch: keine Blankochecks und ein Minimum an Haushaltsdisziplin.» Von der deutschen Knute über Griechenland, die zugunsten deutscher Gläubigerbanken Hunderttausende in den Ruin zwingt, und Deutschlands hemmungsloser Exportwirtschaftspolitik auf Kosten Resteuropas zu schweigen. «Ist das nun knallharter Nationalismus, wie man ihn bei Trump zu entdecken glaubt, oder legitimer Eigennutz? Eindeutig Letzteres.» Denn das ist Liberalismus: hemmungslosen Eigennutz als «legitim» zu verkaufen.

«Wo also», frägt also Gujer, «hören die berechtigten Interessen auf, und wo beginnt kruder Nationalismus? Die Europäer sollten in dieser Debatte ausnahmsweise ihren Hang zu doppelten Standards zügeln.» Denn die Grenze zwischen dem berechtigten Interesse des Stärkeren («Marktwirtschaft») und demselben Interesse, das, geht es an sein Eingemachtes, seinen bürgerlichen Anstand vergisst, ist allemal fliessend.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.