Bildung: «Ganz Züri hasst Sozialabbau»

Nr. 7 –

Der Kanton Zürich will bis 2019 rund 1,8 Milliarden Franken sparen. Unter anderem auch in der Bildung. Dagegen wehren sich SchülerInnen. Letzte Woche mit einer aufsehenerregenden Protestaktion in der Innenstadt.

Die Bevölkerung reagierte positiv: SchülerInnendemo am 8. Februar auf dem Zürcher Limmatquai. Foto: Namila Altorfer

Die ältere Dame, die aus dem Tram den Daumen in die Höhe hielt, war ein Beispiel unter vielen. Wann hat es das zuletzt gegeben, dass so viele verschiedene Leute – Tramgäste, Passantinnen, Autofahrer, Verkäuferinnen – einem Protestzug derart positiv gegenüberstanden?

Es beginnt damit, dass eine Gruppe von MittelschülerInnen beschliesst, aus Protest gegen die Sparmassnahmen der Zürcher Regierung die Kanti Stadelhofen zu besetzen. Am Mittwoch vor einer Woche versammeln sich nach der Mittagspause rund 400 MittelschülerInnen aus Stadt und Land im und vor dem Schulhaus – mobilisiert via Whatsapp.

Die Atmosphäre ist aufgeladen. Doch Aggressivität ist keine zu spüren, als im Untergeschoss über hundert SchülerInnen zusammenkommen und zum Widerstand gegen die Sparmassnahmen aufrufen. Vielmehr vibriert eine positive Energie in der Luft. Umso erstaunter ist der Reporter, als ihn ein Prorektor bittet, unverzüglich das Gebäude zu verlassen: «Wir können Sie auch wegweisen.»

«Luege, lose, laufe!»

«Wir solidarisieren uns, auch wenn wir nicht so direkt betroffen sind», sagen drei Schülerinnen der privat geführten anthroposophischen Atelierschule draussen vor dem Schulhaus. «Letztlich sind wir ja alle von den Sparmassnahmen betroffen, und nicht nur in der Bildung.»

Ähnliches hört man von SchülerInnen des benachbarten Gymnasiums Rämibühl, der Kantonsschulen Oerlikon, Wiedikon, Küsnacht und Winterthur. Auch BerufsschülerInnen haben sich eingefunden – obwohl ihnen mit Geldstrafen gedroht wurde, falls sie nicht zum Unterricht erscheinen. Derweil berichtet ein Rämibühl-Schüler, dass sich auch Lehrer über die Sparmassnahmen beklagen: «Insbesondere unsere Deutsch- und Fremdsprachenlehrer sind auch davon betroffen. Seit diesem Schuljahr müssen sie für den gleichen Lohn eine Lektion mehr unterrichten. Gleichzeitig gibt es seither weniger Halbklassenunterricht.»

Bis 2019 sollen gemäss Regierungsrat im Rahmen der «Leistungsüberprüfung 16» 1,8 Milliarden Franken gespart werden – 67 Millionen an Schulen, allein 44 Millionen davon an den Gymnasien. So etwa sollen die Gelder für die Mediatheken gekürzt werden; die Folge davon wird sein, dass der Bestand an Literatur und anderen Medien verringert wird oder die Mediatheken für einzelne Tage ganz geschlossen bleiben. Klassen, die jetzt schon zu gross sind, sollen zusammengelegt werden. Und auch die Anzahl der GymnasiastInnen soll reduziert werden. Auf der Strecke bleiben würden dabei vor allem jene Jugendlichen, die sich keine Vorbereitungskurse für die Aufnahmeprüfungen leisten können. «Diese Massnahmen lassen sich nicht vereinen mit unserer Überzeugung, dass Bildung ein Menschenrecht ist und der Zugang zu ihr für alle offen sein soll, unabhängig von Einkommen und Lebensrealität», schreiben die SchülerInnen in einer Medienmitteilung.

Ursprünglich hatten die InitiantInnen vor, das Schulhaus den ganzen Nachmittag zu besetzen, um in verschiedenen Räumen selbstständigen Unterricht zu veranstalten, gemeinsam Hausaufgaben zu lösen, zu musizieren und zu diskutieren. Dann aber, kurz nach 14 Uhr, entscheiden sich die SchülerInnen für eine Kundgebung durch die Innenstadt. «Sozial-Abbau – Super-GAU» und «Ganz Züri hasst Sozialabbau» lauten die Slogans, die sich nach einer kurzen Chorprobe als jene erweisen, mit denen gut 200 SchülerInnen losziehen.

Über den Heimplatz und das Niederdorf spazieren sie dem Limmatquai entlang zum Central. Kurz vor 15 Uhr: Halt vor dem kantonalen Verwaltungsgebäude am Walcheplatz. «Jeder, der nur etwas denken kann, weiss, dass Bildung ein Menschenrecht ist», ruft ein Schüler via Megafon in Richtung der Bildungsdirektion. Weiter geht es zum Hauptbahnhof, in dessen Hallen die Rufe besonders deutlich erklingen – und dann durch die Bahnhofstrasse zum Paradeplatz: «S Geld isch da – me mues es nu hole!» Und weiter, auf dem Weg zum Bürkliplatz: «Bildig nöd verchaufe – luege, lose, laufe!» Um 15.30 Uhr endet der Umzug vor dem Opernhaus. Fröhlich, laut und friedlich bis zuletzt. Und weit und breit kein Polizeibeamter.

Politisiert haben sich viele der aktiv Beteiligten schon vor einiger Zeit. «Der Ursprung unseres Engagements lag zunächst in der Flüchtlingspolitik», sagt Sophie, eine der InitiantInnen, am nächsten Tag in einem Café. «In Diskussionen im Geografie- und im Geschichtsunterricht wurde uns bewusst, in was für einer privilegierten Lage wir Schülerinnen in Zürich sind. Im Dezember 2015 organisierten wir eine erste Refugees-welcome-Demo, um gegen die unmenschlichen Unterbringungen und Abschiebungen von Geflüchteten zu protestieren.»

Die Initialzündung für den Protest gegen den Bildungsabbau geschah kurz vor dem kantonalen Aktionstag gegen die Sparpolitik im vergangenen September. Zuvor hatte der Rektor der Kanti Enge davon gesprochen, dass «Schüler als wertvolle Kapitalanlage nicht verloren gehen» dürften. «Diese unglückliche Wortwahl hat uns zum Slogan ‹Wir sind keine Kapitalanlage› für unsere erste Demo gegen den Bildungsabbau inspiriert», sagt Sophie.

Ein halbes Jahr später sind erste Sparmassnahmen bereits spürbar. Das Angebot an Freifächern und unterrichtsergänzenden Veranstaltungen ist kleiner, die Klassen sind grösser geworden. «Viele Schüler benötigen seither mehr Nachhilfeunterricht», sagt Sophie. «Jugendliche aus weniger einkommensstarken Familien können sich das kaum mehr leisten.» Die SchülerInnen wehren sich auch gegen die Kürzungen bei Integrations- und Förderklassen sowie bei geschützten Lehrstellen. «Das ist ein direkter Angriff auf die Chancengleichheit.» Wütend machen Sophie ferner die Kürzungen bei den Geldern für künstlerische Produktionen: «Die Tendenz ist eindeutig: Alles, was nicht leistungsorientiert ist, fällt weg.»

«Auch für die Reinigungsleute»

Sophie und ihren MitstreiterInnen ist es wichtig, nicht von anderen Politgruppen vereinnahmt zu werden. «Wir wollen uns auch nicht zu einem offiziellen Schülerinnen- und Schülerverband verwandeln, sondern offen für alle bleiben, die von Sparmassnahmen betroffen sind – also zum Beispiel auch für die Reinigungsleute in den Schulen.» Am Montag hatte sie Vorbereitungssitzung für den Protesttag, am Dienstag präsentierte sie ihre Maturarbeit, am Aktionstag musste sie den Medienleuten Red und Antwort stehen – und dann arbeitet sie auch noch an zwei Abenden pro Woche in einem Restaurant: Sophie, die dereinst Erziehungs- und Islamwissenschaften studieren möchte, hat anstrengende Tage hinter sich. Ihr Alltag ist ein Beispiel dafür, wie sehr der gesellschaftliche Druck auch auf GymnasiastInnen und die Anforderungen an sie zugenommen haben.

«Vieles in unserer Realität spricht dagegen, sich politisch zu engagieren», sagt Sophie. «Aber irgendwann muss man einfach. Einfach so unterkriegen lassen wir uns nicht.»