Der Fall Jegge: Als sei die Uhr zurückgedreht

Nr. 15 –

Kann man den Fall von Jürg Jegge und die sexuellen Missbräuche von Minderjährigen in den siebziger Jahren allein mit dem Geist der Achtundsechziger erklären? Und was erzählt die Diskussion über den Zeitgeist von heute?

Jetzt hat die Schweiz also auch ihren Reformpädagogenskandal. Der Fall Jegge erscheint wie ein Déjà-vu en miniature der Auseinandersetzungen um die Odenwaldschule in Deutschland und deren langjährigen Leiter Gerold Becker, der in den siebziger und achtziger Jahren dort Schüler sexuell missbraucht hatte. Er war nicht der Einzige. Obwohl die Anschuldigungen schon 1998 öffentlich wurden, rollte der grosse Skandal um die Odenwaldschule erst 2010 an.

Sturz in einen Orkus

Nun sehen wir wieder den Sturz eines gefeierten Pädagogen. Es ist ein eigenartiger Sturz zurück in einen Orkus, den Jürg Jegge offenbar früher schon einmal bewohnt hatte. «Was bin ich doch in den Augen der Leute nicht schon alles gewesen! Bauernfänger, Kommunist, Homosexueller, Mädchenverführer, verspätet Pubertierender», schrieb er in «Dummheit ist lernbar». Mit diesem Buch von 1976 begann die Phase der Anerkennung und des Erfolgs für Jegge. Doch nun, vierzig Jahre später, folgt sein Sturz. Als sei die Uhr zurückgedreht oder vielmehr: als sei man im Weitergehen der Zeit nun in einer Landschaft angekommen, die an Vergangenes erinnert, obwohl doch alles ganz anders ist.

Es gehe nicht an, dass Jegge seine Taten mit dem Zeitgeist der siebziger Jahre erkläre, den Missbrauch verharmlose, indem er sich auf das damalige Denken im «grün-linken Kuchen» berufe, heisst es nun in allen Kommentaren. Auch Nazis hätten sich nicht später mit dem Argument herausreden können, im Nationalsozialismus seien ihre Verbrechen legal gewesen, schreibt etwa Daniel Gerny in der NZZ.

Der Vergleich ist drastisch, aber er stimmt in der Sache. Denn unabhängig vom Zeitgeist und auch vom geltenden Recht gibt es ethische Regeln der Menschlichkeit, die man schuldlos nicht brechen kann. Mochten die «Sexfrontler» aus dem grün-linken Kuchen damals auch Tabus einreissen und fest an den Sexualforscher Wilhelm Reich und die befreiende Wirkung des Orgasmus glauben: In den Übergriffen auf Kinder haben sie ihre eigenen Ideale verraten, nämlich die Freiheit aller zu fördern. Der grosse Fehler – aus heutiger Sicht – war es, die Unterscheidung der Generationen einzuebnen; das tabulose Du zwischen Kindern und Erwachsenen war naiv und überfordernd. Auch damals hätte klar sein müssen, dass ein Kind keine Sprache haben kann für missbräuchliche Übergriffe – wo es doch selbst Erwachsenen oft schwerfällt, im richtigen Moment Nein zu sagen.

Heute «Schutz», damals «Befreiung»

In «Geschlossene Gesellschaft», einem Dokumentarfilm von Luzia Schmid und Regina Schilling über die Odenwaldschule, erzählt ein Betroffener, dass er sein Zimmer abgeschlossen und die Duschen gemieden habe, um sich vor dem Zugriff Gerold Beckers zu schützen. Es funktionierte. Aber die wenigsten konnten und können sich selber so schützen.

Markus Zangger, der mit seinem soeben erschienenen Buch «Jürg Jegges dunkle Seite» den Fall erst ins Rollen brachte, konnte es nicht (vgl. «Ein ehemaliger Schüler bricht das Schweigen» im Anschluss an diesen Text). In seiner Beschreibung der «Durchatmen-Therapie» wird die ganze Absurdität der pädagogischen Grauzonenlüste deutlich: Da sieht der Lehrer seinem Schüler beim Masturbieren zu, und weil er feststellt, dass der Junge verkrampft ist, glaubt er allen Grund zu haben, die sexuelle Entspannungstherapie weiter fortzusetzen. Ein Perpetuum mobile zur scheinheiligen Beförderung der eigenen Lust. In seiner müden Entschuldigung – «Ich habe das als gegenseitiges Einvernehmen empfunden» – gibt sich Jegge harmlos, naiv. Gerold Becker war da zynischer. Er soll noch kurz vor dem Tod zu einem seiner ehemaligen Schüler gesagt haben: «Ich hatte eine gute Zeit.»

Die Feststellung, dass die Zeiten damals andere waren, taugt zwar nicht als Rechtfertigung, als Diagnose aber ist sie goldrichtig. «Da hat sich einiges verändert im Denken in den letzten Jahren», sagt Jegge im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Wenn man den Mentalitätsunterschied zwischen 1970 und 2010 auf einen Nenner bringen wollte, könnte man sagen, dass an die Stelle der «Befreiung» heute der «Schutz» getreten ist, statt an Revolution denken wir jetzt in Kategorien der Sicherheit.

Kaum noch nachvollziehbar ist, welche Rolle Sex damals spielte, wie ungewaschen rau es herging. Die sexuelle Befreiung war – aus heutiger Perspektive – sexistisch ohne Ende, sie war übergriffig und verletzend im grossen Ziel, die Gesellschaft über den Körper zu befreien. Dass Studentinnen dem geschockten Professor Theodor W. Adorno während der Vorlesung ihre nackten Brüste zeigten, versinnbildlicht gut den Geist der Zeit: offenlegen, den Sex politisieren, mit ihm experimentieren, sich notfalls auch versehren dabei – egal. Man setzte den Körper aufs Spiel. Die Radikalität und Experimentierfreude jener Zeit ist heute fremd geworden. Wir schauen uns im Kino zwar Blutorgien von Quentin Tarantino und überhaupt pornografisierte Gewalt aller Art an, aber rohe Bilder wie etwa aus Alfred Hitchcocks Krawattenmörderfilm «Frenzy» sind heute undenkbar.

Und die Mädchen?

So wie es nicht angeht, den Zeitgeist als Rechtfertigung für Missbrauch zu akzeptieren, geht es auch nicht an, eine Zeit – oder auch die Reformpädagogik – als Ganze wegen einzelner Täter zu diskreditieren. Ohne verharmlosen zu wollen, muss man die Beckers und Jegges zum Teil aus ihrer Zeit heraus verstehen, die vorbei ist, mit der aber auch ein grosses Freiheitsversprechen verschwunden ist – und eine gewisse «Unschuld», die nicht im Handeln lag, sondern im Denken. An manchen Stellen hängt in den Städten noch jenes ältere Verkehrszeichen für «Fussweg», das auf blauem Hintergrund die weisse Silhouette eines Mannes mit Hut zeigt, der ein kleines Mädchen an der Hand führt. Früher war das nur ein Verkehrszeichen, heute wirkt das Bild zweideutig.

Die Ankündigung von «Jürg Jegges dunkle Seite» war zwar vom Verlag als schockierende Enthüllung inszeniert. Doch an die grosse Aufregung des Jahres 2010, als mehrere Schulen und die Kirchen ins Visier gerieten, wird sie nicht heranreichen. Mittlerweile herrscht fast eine Routine in diesen Dingen, und das Publikum hat sich an die Aufdeckung von Missbrauchsfällen gewöhnt wie an den Anblick nackter Brüste.

Die Empörung aber bleibt, und wie immer klingt sie eine Spur zu sicher. Ist der Pädophile einmal dingfest gemacht, wissen alle, wos langgeht. «Schuld ist alleine Jürg Jegge» titelt die NZZ. Ja, klar. Aber wer noch? Missbrauch hat etwas mit Strukturen zu tun, nicht nur mit Individuen. Missbrauch, die perfide Verbindung von Macht und Sex, findet statt, weil zu viele Menschen aus Angst den Mund halten. Missbrauch gedeiht, weil Erwachsene Macht über Kinder haben, Chefs und Chefinnen über Untergebene, Männer über Frauen. Daran hätten die Ideen der Achtundsechziger, wenn man sie nur wirklich ernst genommen hätte, etwas ändern wollen.

Es fällt auf, dass die grosse öffentliche Empörung gegen Missbrauch – die eine breite Sensibilisierung und die Bereitschaft, die Opfer endlich ernst zu nehmen, zur Folge hatte – erst mit den veröffentlichten Fällen männlich-homosexueller Pädophilie einsetzten. Dass Mädchen Opfer sexueller Gewalt sind, ist lange bekannt, taugt aber offenbar weniger zum Skandal, sondern ist lediglich traurige Realität.

Vierzig Jahre danach: Ein ehemaliger Schüler bricht das Schweigen

Letztes Jahr feierte die «Dümmi», wie der ehemalige Sonderschullehrer Jürg Jegge seinen berühmten Erstling, «Dummheit ist lernbar», nennt, ihr Vierzigjahrjubiläum. Aus diesem Anlass traf ich Jegge Anfang August 2016 in einem Zürcher Café, wo er mir gewitzt und wortreich erzählte, was er schon in den siebziger Jahren propagierte: Das staatliche Schulsystem lasse die individuelle Förderung der «Chnöpfli», der SchülerInnen, nicht zu (siehe WOZ Nr. 37/2016 ).

Da habe er als Lehrer irgendwann nicht mehr mitspielen wollen: Mit dem Segen der Behörden gründete er 1970 in der Stube eines alten Bauernhauses eine private Sonderschule. Dort gestaltete er einen Unterricht, der für die damalige Zeit völlig neuartig war: Er schaffte die Lektionenstruktur ab, gab keine «Ufzgi» und keine Schulnoten mehr. Womit er den Zeitgeist traf: Sein 1976 verfasster Erstling beförderte den damals 33-Jährigen in den Pädagogenolymp: «Dummheit ist lernbar» gilt noch heute als Standardwerk der Pädagogik.

Zugegeben, er habe den Bereich des Möglichen manchmal sehr stark ausgereizt, erzählte er mir. Wie weit dieses «Ausreizen» tatsächlich ging, hat nun Markus Zangger, einer seiner ehemaligen Sonderklassenschüler, publik gemacht. Im letzte Woche erschienenen Buch «Jürg Jegges dunkle Seite» erzählt er von sexuellen und psychischen Übergriffen, die Jegge jahrelang an ihm verübt hat.

Zanggers Buch, das dieser zusammen mit dem Journalisten und Sektenkritiker Hugo Stamm geschrieben hat, rückt Jegges pädagogische Ansätze in ein völlig neues Licht. Das Verhältnis zwischen Jegge und seinen Schülern sei sehr eng gewesen, schreibt Zangger. Der Dreizehnjährige wurde von Jegge bald einer «Therapie», dem «Dureschnufä», unterzogen. «Zuerst sass Jegge nur am Bettrand, um mich zu berühren. Später legte er sich nackt neben mich und forderte mich auf, gemeinsam mit ihm zu onanieren», schreibt Zangger. Fast fünfzehn Jahre dauerten die Missbräuche an, bis sich der damals 27-jährige Zangger zur Wehr setzte.

Die PR-Inszenierung, mit der der Wörterseh-Verlag an einer Medienkonferenz am Dienstag letzter Woche das Geheimnis um den Inhalt des Buchs lüftete, von dem er tags zuvor in einem Mail an die Presse nur preisgegeben hatte, dass er «das ganze Land erschüttern» werde, tat ihre Wirkung: Schon bevor Jegge zu den im Buch erhobenen Vorwürfen Stellung beziehen konnte, berichteten diverse Blätter gross und schlagzeilenträchtig über den Fall.

Jegge selbst meldete sich erst am Freitag zu Wort, nachdem er das Buch gelesen hatte. Gegenüber «Tages-Anzeiger», NZZ und «Blick» spricht der 73-Jährige erstaunlich offen über die Vorwürfe – und gibt die sexuellen Kontakte zu. Zwar habe er einige Details anders in Erinnerung, Zanggers Version aber streitet er nicht ab. Auch räumt er Fehler ein: Aus heutiger Sicht würde er so etwas nicht mehr machen. Damals aber sei er überzeugt gewesen, damit nur im Interesse der Schüler gehandelt zu haben.

Mittlerweile haben weitere ehemalige Schüler von Übergriffen ihres einstigen Lehrers berichtet. Die Zürcher Bildungsdirektion hat eine Aufarbeitung angekündigt. Auch die Zürcher Justizbehörden haben Vorermittlungen um die von Jegge eingestandenen Fälle eingeleitet. Dabei soll auch geklärt werden, ob tatsächlich alle sexuellen Missbräuche von Minderjährigen verjährt sind.

Anouk Eschelmüller