Dokfilmkontroverse: Die Macht der nationalen Erzählung

Nr. 25 –

Arte weigerte sich, einen Auftragsdokfilm zum Thema Antisemitismus auszustrahlen. Tatsächlich gibt es gute Gründe, den Film nicht zu zeigen.

Sind alle IsraelkritikerInnen Anti­semitInnen? Dreharbeiten zum Film «Auserwählt und ausgegrenzt. Der Hass auf die Juden in Europa» in Gaza-Stadt. Still: WDR / Preview Production GbR

Der öffentliche deutsch-französische Fernsehsender Arte hat einen Film über «den Hass auf die Juden in Europa» in Auftrag gegeben, den er jedoch zunächst nicht ausstrahlte, weil er angeblich nicht dem vereinbarten Konzept entsprach. Seit die «Bild»-Zeitung den Film online gestellt hat, tobt nun ein grosser Streit: Hatte Arte den Film, den der Sender diesen Mittwoch schliesslich doch ausstrahlte, wirklich wegen Formalien abgelehnt? Wollte Arte den Antisemitismus vertuschen, wie «Bild» glaubt? Oder war der Film einfach nur zu schlecht?

Der Dokfilm legt dar, wie die im Christentum verankerte Judenfeindlichkeit Ende des 19. Jahrhunderts zum Kern des rechten Nationalismus wurde, der in den Nationalsozialismus mündete. Er zeigt, wie die rassistischen Vorurteile und Verschwörungstheorien über JüdInnen – etwa die «Protokolle der Weisen von Zion», die eine jüdische Weltverschwörung behaupten – bis heute tief in Europa verankert sind und von rechtsnationalen, identitären Bewegungen an Kundgebungen offen propagiert werden.

Brunnenvergiftungslegenden

Die beiden AutorInnen Joachim Schroeder und Sophie Hafner zeigen weiter, wie die Nazis den Antisemitismus in den Nahen Osten trugen, um die arabische Welt gegen die dortige britische Kolonialmacht und die jüdischen Bevölkerungsteile aufzubringen. Und sie legen dar, wie der Antisemitismus auch im Nahen Osten weiterlebt. Etwa anhand einer Uno-Rede von Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, in der dieser behauptet, Rabbiner hätten dazu aufgerufen, palästinensische Brunnen zu vergiften: eine antijüdische mittelalterliche Legende.

Der Film legt weiter offen, wie der Antisemitismus unter europäischen Jugendlichen, deren Eltern aus dem Nahen Osten eingewandert sind, am Aufflammen ist und sich in zunehmenden Gewalttaten niederschlägt. Schliesslich zeigt der Film, dass der Antisemitismus (bewusst oder unbewusst) auch in der europäischen Linken weiterlebt. So behauptet die linke Bundestagsabgeordnete Annette Groth, Israel habe im Gazastreifen das Wasser mit Tonnen von Gift verseucht, das nun ins Mittelmeer fliesse.

AntisemitInnen, gibt die Linguistin Monika Schwarz-Friesel zu Protokoll, gäben sich heute selten als solche zu erkennen: Statt «Juden» sagten sie «Israel».

Hier beginnt das Problem des Films. Und dieses ist riesig. Denn neben dem als Israelkritik getarnten Antisemitismus gibt es auch legitime Gründe, die israelische Politik zu kritisieren: Israel hält seit 1967 palästinensische Gebiete besetzt – trotz zahlreicher Uno-Beschlüsse, die es zum Rückzug auffordern. Die Regierung hat im Westjordanland unter Missachtung des humanitären Völkerrechts geholfen, rund 240 israelische Siedlungen zu bauen, für die unzählige PalästinenserInnen vertrieben wurden. Das Leben der PalästinenserInnen unter israelischer Besatzung ist ein Leben ohne demokratische Rechte, geprägt von Gewalt und Demütigungen. Die Ungerechtigkeit ist ungeheuerlich.

Im besten Fall simple Dummheit

Statt nun die hauchdünne Grenze zu ergründen, an der die legitime Israelkritik aufhört und der Antisemitismus anfängt, wirft das Autorenduo sämtliche IsraelkritikerInnen ins antisemitische Lager. Darunter NGOs wie Amnesty International sowie alle Linken, egal welcher Partei oder ideellen Strömung. Um ihre These zu untermauern, treten sie den Beweis an, dass es gar nichts zu kritisieren gebe. Dabei greifen sie auf drei rhetorische Tricks zurück.

Erstens: Sie unterschlagen die legitime Kritik, wonach Israel das internationale Recht missachtet und den PalästinenserInnen ihre demokratischen Rechte vorenthält, um nicht darauf eingehen zu müssen. Indem sie die Geschichte und Fakten aufs Unkenntliche zurechtbiegen, versuchen sie zweitens zu zeigen, dass PalästinenserInnen keinen Grund zur Klage hätten. Die Vertreibung von 700 000 PalästinenserInnen nach der Gründung Israels, die die PalästinenserInnen als «nakba» (Katastrophe) bezeichnen, wird zum friedlichen Bevölkerungsaustausch – erzählt von einem Veteranen der paramilitärischen Haganah, die bei der Vertreibung mithalf. Die unzähligen NGO-Berichte, die die desolate Lage im Gazastreifen protokollieren, werden mit ein, zwei flapsigen Kommentaren zur Seite geschoben. Nicht zu leugnende Missstände werden drittens allesamt der Hamas angelastet, die den Gazastreifen kontrolliert. Ja, die Hamas ist ein Trupp von gewaltverherrlichenden Fanatikern, die ihren Teil zum Leid beitragen. Doch das macht die israelische Besatzung keineswegs besser.

Im besten Fall steckt hinter all dem simple Dummheit. Im schlechtesten Fall bewusste Propaganda unter journalistischem Mäntelchen.

Das AutorInnenduo folgt damit einer nationalistischen Geschichtsschreibung, der der Antisemitismus gerade entstammt. Es macht sich zum bedingungslosen Anwalt eines angeblichen Lagers – gegen eine palästinensische Bevölkerung, die es als bösartig und antisemitisch darstellt und deren Rechte offenbar weniger gelten als jene der anderen. Die Alternative wäre gewesen, sich zum Anwalt von Werten zu machen, von Menschenrechten: Wer die Unterdrückung der PalästinenserInnen beklagt, sollte genauso laut den Antisemitismus verurteilen. Wer umgekehrt den Antisemitismus verurteilt, sollte genauso die Unterdrückung der PalästinenserInnen beklagen. Ist das so schwierig?