Von oben herab: Bahn frei

Nr. 38 –

Stefan Gärtner über Hindernisse für Mensch und Güter

In der Zeitung steht, wer das Klima schützen will, möge Bahn fahren. Am Wochenende waren wir bei der Schwiegeroma in der Eifel, an der Grenze zu Belgien, und das Städtchen hat zwar Geschäfte, Tankstellen, ein Gymnasium und Hotels, aber was es seit Jahren nicht mehr hat, ist ein Bahnhof. Der nächste ist eine halbe Autostunde entfernt, und die Fahrt von Norddeutschland aus und zurück kostet, zwei Erwachsene, ein Kind, selbst mit Vierteltax und Sparbuchung 250 Euro. Die Autofahrt kostet ein Drittel, und man muss nicht dreimal umsteigen, nämlich vom ICE in den Regionalzug und dann in den Bus und dann in einen anderen Bus. (Dafür steht man vor Dortmund eine Stunde im Stau und darf wiederum Zeuge werden, wie wenige Deutsche das Wort «Rettungsgasse» schon mal gehört haben, aber das ist eine andere Geschichte.)

Wie schnell doch die Zeit vergeht, und wie sehr sich immer alles zum Besseren entwickelt! Am 8. Oktober 2010, also vor fast genau sieben Jahren, beschrieb ich, mit Blick auf den Rummel um den Stuttgarter Kellerbahnhof, meine «Vision für die Bahn des 21. Jahrhunderts»: «Nicht Topspeed-Futurismus auf Biegen und Brechen, sondern eine Bahn als komfortables, zuverlässiges Verkehrsmittel für alle, das den sprunghaft wachsenden Güterverkehr nach Kräften auf die Schiene holte und sich nicht an Prestige und Börsentauglichkeit, sondern am, horribile dictu, gesellschaftlichen Gesamtnutzen orientierte.» Heute sieht es so aus, dass die Topspeed-Strecke München–Berlin (Gesamtkosten: zehn Milliarden Euro) zum Nutzen von Entscheidern und Flexibilitätskünstlerinnen vor ihrer Vollendung steht, während der Güterverkehr auf Europas wichtigster Nord-Süd-Achse seit Wochen ruht, weil der Deutschen Bahn beim Versuch, die Strecke bei Rastatt zu untertunneln, ein «Malheur» (NZZ) passiert ist und sich die Gleise abgesenkt haben. «Die genaue Ursache sei noch unklar. Um die Rheintalstrecke reparieren zu können, füllt die Bahn den Tunnel zur Stabilisierung auf 50 Metern Länge mit Beton» (swr.de, 16.  August) und lässt, der Einfach- und Sicherheit halber, die Tunnelbohrmaschine (18 Millionen Euro) gleich drin.

Gerade im Bahn- und Industrieland Schweiz ist die Freude riesig, denn auf den Umleitungsstrecken können nur 25 Prozent des normalen Frachtverkehrs abgewickelt werden, wie sich die Schweizer Logistikbranche in einem offenen Brief an die EU-Kommissarin Violeta Bulc und Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt beschwert hat. Mit Schäden in Milliardenhöhe sei zu rechnen, ganze Betriebe von Italien bis Britannien stünden vor dem Stillstand usw. Und so ist das eben: Erst muss sich die Deutsche Bahn das populäre Dauergejammer über ewige Verspätungen und kaputte Klimaanlagen anhören, und dann kommt auch noch Pech dazu, denn warum der Rastatter Tunnel, der dem Lärmschutz dienen soll, eingestürzt ist, weiss man nicht. Was man aber weiss, ist, dass die wichtigen Leute neuerdings in vier Stunden von München nach Berlin kommen, die nicht so wichtigen dafür gar nicht mehr von H. nach P., und wer (wie etwa meine Schweizer Lieblingsfirma, die Bertschi AG Dürrenäsch) was zu transportieren hat, der muss mitunter warten, aber das muss, wer bei uns Bahn fährt, generell. Klingt für Schweizer Ohren bizarr, ist aber so.

Morgen gehts zu den Schwiegereltern in die Rhön, mit der Bahn. Opa holt uns ab, vom nächsten Bahnhof, keine 45 Autominuten entfernt. Es geht voran.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er sonst das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.