Zurich Film Festival: Begeistert vom Wachstum wie ein Ölbaron

Nr. 40 –

Nur dank Al Gore sei das Pariser Klimaabkommen zustande gekommen, behauptet der neue Film mit und über den US-Klimaaktivisten. Das ist nicht das einzige Problem am Sequel zu «An Inconvenient Truth».

Al Gore ist gut gealtert. Sein Bubengesicht wirkt nun grossväterlich, das graue Haar passt gut zur präsidialen Attitüde, die der ehemalige US-Vizepräsident nie abgelegt hat. So ganz hat er die hauchdünne Niederlage gegen George W. Bush vor siebzehn Jahren nicht verwunden – und geniesst es offensichtlich, dass ihn seine Fans immer noch als «Mister Vice President» ansprechen.

Dabei ist der 69-Jährige inzwischen vor allem als Klimaaktivist bekannt. Sein Film «An Inconvenient Truth» (Regie: Davis Guggenheim) gewann 2006 zwei Oscars und brachte Al Gore den Friedensnobelpreis. Seither fliegt er mit seinem laufend aufdatierten Klimavortrag um die Welt und bildet daneben auch Leute aus, die selber Vorträge halten sollen.

Der Indiendeal

Schon der erste Film war eine Heldengeschichte. Doch die Fortsetzung «An Inconvenient Sequel: Truth to Power» von Bonni Cohen und Jon Shenk treibt die Heldenverehrung in ungeahnte Höhen. Falls Sie es noch nicht wussten: Al Gore hat 2015 das Pariser Klimaabkommen gerettet. Ohne ihn wäre es nicht zustande gekommen – so suggeriert der Film. Er zeigt Gore in den Monaten vor der Klimakonferenz, unermüdlich lobbyierend. Doch in Indien stösst er auf Widerstand. Er trifft indische Minister, die ihm unverblümt sagen, ihr Land brauche jetzt vor allem eines: billige Energie. Sie hätten das gleiche Recht auf Kohle, das die Industrieländer 150 Jahre lang hatten.

Gore ist alarmiert und organisiert hektisch Sitzungen mit US-Aussenminister John Kerry und Wirtschaftsleuten. Zu Beginn der Klimakonferenz sieht es düster aus. Indiens Premier Narendra Modi hält an der fossilfreundlichen Position fest. Da setzt Al Gore bei seinen Cleantech-Freunden alle Hebel in Bewegung. Solarcity, der grösste Solarkonzern der USA, soll Indien seine neusten Hightechsolarzellen frei zur Verfügung stellen. Angespannte Telefongespräche, Solarcity sagt zu, Indien gibt nach, und am 12. Dezember 2015 steht das Pariser Klimaabkommen. Alle jubeln – und hier hätte der Film wohl geendet, wäre ein knappes Jahr später nicht Donald Trump gewählt worden.

Eine schöne Geschichte, die auch viel über Al Gores Politikverständnis aussagt. Nur stimmt sie offenbar so nicht. Gores Bemühungen seien nicht ausschlaggebend gewesen für das Einlenken, zitiert die US-Umweltinfoplattform E & E News einen Inder, der in Paris mitverhandelte. Und Solarcity sei nie nach Indien gekommen. Tatsächlich hat der kalifornische Konzern dazu auch nie eine Pressemitteilung veröffentlicht; auf Nachfragen von E & E News (und der WOZ) gab er keine Antwort.

Al Gores sehr persönliche Interessen

Al Gore hat zweifellos viel geleistet. Wenige haben mit dem Thema Klima so viele Menschen erreicht wie er. Bestimmt sind viele der mutigen AktivistInnen, die sich gegen den Teersandabbau in Kanada, die Keystone-XL-Pipeline in den USA oder den Kohletagebau in Deutschland wehren, auch von «An Inconvenient Truth» aufgerüttelt worden. Doch diese Bewegungen kommen im neuen Film nicht vor. Hier geht es um den einsamen Kampf eines reichen weissen Mannes, der sich mit anderen weissen Männern vernetzt. Der Rest sind ZuhörerInnen.

Al Gore besucht eine Forschungsstation in Grönland, wo man zuschauen kann, wie Eistürme kollabieren und sich Gletscher in Sturzbäche verwandeln. Er watet in Gummistiefeln durch das überschwemmte Miami Beach. Auf den Philippinen besucht er ein Massengrab von Opfern des Taifuns Hayan und trifft einen Überlebenden, der weinend von seiner Todesangst erzählt. Hier – wie bei den indischen Ministern – wäre Gelegenheit gewesen, an die historische Klimaschuld der reichen Länder zu erinnern. Doch Gore beschränkt sich auf ein Zitat von Papst Franziskus über die Verletzlichkeit der Armen.

Das alles wäre noch zu verkraften, wenn Gore wenigstens eine überzeugende Strategie präsentieren würde. Doch seine Vorschläge sind deprimierend eindimensional. Am liebsten zeigt er steile Kurven über die Zunahme von erneuerbaren Energieträgern – begeistert vom Wachstum wie ein Ölbaron. Erneuerbare Energie billiger als Kohle zu machen, ist zweifellos ein wichtiges Ziel. Aber genügt es als Strategie? Weder der Flugverkehr noch die Macht der Ölfirmen sind Thema, die wirklich unbequemen Fragen über Konsum, Handelspolitik und Wirtschaftswachstum schon gar nicht. Solarzellen und Wind statt Kohle und Öl, dann ist das Problem gelöst, das ist die Botschaft dieses Films. Was nicht erstaunt – Al Gore ist seit seiner Niederlage gegen Bush nicht nur Klimaaktivist. Er hat auch kräftig investiert. Zum Beispiel in Solarcity, heute faktisch ein Teil von Tesla. Dass Gore also auch ein sehr persönliches Interesse am Wohlergehen von Solarcity hat, erwähnt der Film nicht.

Und nicht nur an Solarcity – so reich wie Multimillionär Gore wird man nicht mit Cleantech allein. Viel verdient hat er auch mit dem Verkauf eines Fernsehsenders an al-Dschasira, mit Mandaten bei Google und Apple, mit Immobilien und Anlagefonds. Kein Wunder, dass er die wirklich unbequeme Wahrheit nicht hören will, die die kanadische Autorin Naomi Klein auf den Punkt gebracht hat: Kapitalismus und Klima sind nicht kompatibel.

Al Gore tritt am Sonntag, 8. Oktober 2017, am Zurich Film Festival auf. «An Inconvenient Sequel: Truth to Power» läuft ab 12. Oktober 2017 in den Kinos.

An Inconvenient Sequel: Truth to Power. Regie: Al Gore. USA 2017