Simonetta Sommaruga: «Gewiss, die Schweiz kann es noch besser machen»
Justizministerin Simonetta Sommaruga lädt afrikanische und europäische Staaten zum Migrationsgipfel. Sie sieht in der verstärkten Grenzkontrolle in der Sahara keine Auslagerung des Asylrechts. Und sagt, die Flucht aus dem Süden lasse sich nur verringern, wenn die wirtschaftliche Ausbeutung beendet werde.
WOZ: Frau Bundesrätin, Sie sind kürzlich in den Niger gereist, der sich zum wichtigsten Durchgangsland für Flüchtlinge entwickelt hat. Wie sieht Ihr Fazit aus?
Simonetta Sommaruga: Ich war schon vor zehn Jahren im Niger, damals noch für Swissaid. Ich habe nun ein Land angetroffen, das vor noch grösseren Herausforderungen steht als damals. In Europa ist man sich nicht bewusst, was hier alles zusammenkommt: Die Bevölkerung hat sich in diesen zehn Jahren mehr als verdoppelt. Der Niger hat die höchste Geburtenrate der Welt und liegt auf dem globalen Entwicklungsindex auf dem zweitletzten Rang. Im Süden schreitet die Desertifikation voran, immer grössere Flächen werden zu Wüsten. Dadurch nimmt die wirtschaftlich nutzbare Fläche ab.
Zudem grassiert der Terrorismus. 200 000 Menschen sind aus Nigeria vor der Terrorgruppe Boko Haram in den Niger geflohen. Wir haben allen Grund, dieses Land und die ganze Region sehr stark zu unterstützen, und wir brauchen dafür zusätzliche, neue Instrumente.
Wie wirkt sich die instabile Situation im nördlichen Nachbarland Libyen aus?
In Libyen gibt es keine Sicherheit mehr, keine öffentlichen Strukturen, keine staatliche Autorität. Die Lage in Libyen destabilisiert die ganze Sahelzone. Der Niger war und ist ein Transitland für Arbeitsmigranten auf dem Weg von Westafrika nach Libyen. Denn auch heute noch gibt es in Libyen Geld und Arbeit. In Agadez, an der Grenze zur Sahara, habe ich nun aber junge Westafrikaner getroffen, die von Libyen zurückkamen und nach allem, was sie erlebt hatten, nur noch eines wollten: nach Hause.
Worin bestehen die neuen Instrumente, die Sie anwenden wollen?
Neu finanziert die Schweiz über den EU-Trust-Fund Auffangzentren, etwa in Agadez: Diese werden von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geführt. Migranten, die freiwillig wieder nach Hause wollen, erhalten dort Unterstützung. Das ist sinnvoll. Übrigens ist die Schweiz im Niger seit vier Jahrzehnten in der Entwicklungszusammenarbeit engagiert, und diese bleibt sehr wichtig. Bei der landwirtschaftlichen Berufsbildung konnte die Schweiz Zehntausenden von Leuten eine Ausbildung geben.
Sie haben die gefährliche Situation im Niger erwähnt. Wer garantiert in den Lagern für die Sicherheit dieser Menschen und dass sie einen Zugang zu einem Asylverfahren erhalten?
Gefährlich sind vor allem die Haftlager in Libyen. Im erwähnten Zentrum in Agadez im Niger halten sich fast ausschliesslich Migranten aus Westafrika auf, die in Libyen Schlimmes erlebt haben und kein Asylgesuch stellen, sondern zurück nach Hause wollen. Ausserdem plant das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im Niger ein Zentrum für besonders schutzbedürftige Personen, die in Libyen gestrandet sind. Von dort aus werden die vom UNHCR anerkannten Flüchtlinge auf aufnahmebereite Staaten verteilt. Die Schweiz beteiligt sich seit 2013 wieder am Resettlement-Programm der Uno.
Bedeutet das Vorgehen nicht einfach eine Auslagerung des Asylverfahrens von Europa nach Afrika? Die Schweiz könnte ja die besonders verletzlichen Personen direkt aus Libyen aufnehmen, statt sie erst in den Niger bringen zu lassen.
Sie unterschätzen die prekäre Sicherheitslage in Libyen. Oberste Priorität ist, besonders verletzliche Personen kurzfristig aus Libyen zu evakuieren. Dann muss man einen Ort finden, wo sie hinkönnen.
Die Schweiz beteiligt sich zwar wieder am Resettlement-Programm, aber das geschieht nur zögerlich.
Seit 2013 hat der Bundesrat die Aufnahme von insgesamt 3500 Personen beschlossen. Wir brauchen dafür jedes Mal die Unterstützung der Kantone. Zudem hat die Schweiz seit 2013 für rund 5000 Syrer und Syrerinnen humanitäre Visa ausgestellt. Insgesamt haben in der Schweiz 15 000 Personen aus Syrien Schutz gefunden. Gewiss, die Schweiz kann es noch besser machen, und ich engagiere mich dafür, dass wir unserer humanitären Tradition gerecht werden.
Die Schweiz unterstützt auch die libysche Küstenwache finanziell. Diese hat NGOs bei der Seenotrettung von Bootsflüchtlingen gewalttätig angegriffen und steht im Verdacht, selbst im Menschenhandel tätig zu sein. Wie kann die Schweiz es rechtfertigen, einer solchen Organisation eine Million Franken zu zahlen?
Die Unterstützung läuft ebenfalls über die IOM. Finanziert werden damit ausschliesslich Ausbildungen für die Einhaltung menschenrechtlicher Standards und Material für die Seenotrettung wie Schwimmwesten. Unsere Unterstützung und unser Vertrag mit der IOM sind völlig transparent. In den ersten neun Monaten dieses Jahres hat die libysche Küstenwache über 14 000 Menschen das Leben gerettet. Vergessen wir nicht, dass im letzten Jahr über 5000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind.
Sie sprechen viel von Schutz, aber kaum je davon, dass neue Grenzen aufgezogen werden, damit die Menschen nicht hierherkommen können.
Neu sind die Grenzen nicht: Was heute europäische Grenzen sind, waren vor Schengen nationalstaatliche Grenzen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu stark in einem eurozentrischen Denken verharren. Sonst verkennen wir, dass die meisten Flüchtlinge und Migranten in afrikanischen Ländern Zuflucht oder Arbeit suchen. Viele von ihnen wollen gar nicht nach Europa. Tunesien zum Beispiel ist auch Zielland vieler Migrantinnen geworden. Deshalb unterstützen wir das Land beim Aufbau eines Asylwesens.
Statt den Menschen zu ermöglichen, in der Schweiz oder in einer Botschaft ein Asylgesuch zu stellen, geben wir Nachhilfe in Menschenrechten und liefern – etwas salopp gesagt – Schwimmwesten.
Das ist mehr als nur salopp gesagt. Jetzt reduzieren Sie das Engagement der Schweiz auf diese Schwimmwesten, was total falsch ist: Die Schweiz engagiert sich in der ganzen Region, migrationspolitisch, friedenspolitisch, humanitär, auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit. Soeben hat die Schweiz eine mehrjährige, breit angelegte Kooperationsstrategie mit dem nördlichen Afrika lanciert.
Was aber richtig ist: Die desaströsen Zustände in Libyen lassen sich nicht mit einer Migrationspolitik lösen. Hier ist die Uno gefordert, auch die Afrikanische Union.
Die verstärkte Grenzkontrolle der EU und der Schweiz in Afrika bewirkt, dass auch die Binnenmigration zwischen den Staaten schwieriger wird. Das erinnert an die Kolonialzeit.
Eigentlich besteht zwischen den westafrikanischen Staaten, im sogenannten Ecowas-Raum, Personenfreizügigkeit. Wir dürfen indes nicht verkennen, dass auch afrikanische Staaten angesichts der Sicherheitsprobleme ein Interesse an Grenzkontrollen haben. Sie sprechen aber etwas Wichtiges an: Die regionalen Wirtschaftsräume in Afrika haben ein grosses Potenzial. Die Erkenntnis, dass es nicht um einzelne Länder geht, mit denen Europa, die USA oder China Geschäfte treiben, sondern um die Entwicklung der regionalen Wirtschaftsräume. Die ist neu und für uns wichtig.
Am 13. November trifft sich in Bern die «Kontaktgruppe Zentrales Mittelmeer», an der sechs afrikanische und fünf europäische Regierungen beteiligt sind. Wozu dient die Gruppe?
Als ich 2015 am EU-Afrika-Gipfel in Malta teilnehmen konnte, habe ich einmal mehr gesehen, dass Europa keine gemeinsame Afrikapolitik betreibt. Die Kontaktgruppe bietet ein Forum, um wichtige Fragen zu diskutieren: Was sind die Probleme der afrikanischen Länder, was sind unsere Anliegen? Was können wir gemeinsam unternehmen? Das Wichtigste ist: Wir müssen mit den afrikanischen Staaten diskutieren, nicht über sie.
Fällt die Gruppe auch Entscheide?
Nein, aber sie kann wichtige Impulse für Diskussionen innerhalb der EU und der Uno geben. Auch internationale Organisationen wie das UNHCR und die IOM sind beteiligt und erstmals auch das IKRK. Als Gastgeber konnten wir das Thema setzen. Das Treffen ist dem Schutz der Migranten gewidmet.
Was sind die Erwartungen der afrikanischen Regierungen?
Zu Beginn des Dialogs sagten die Europäer den Afrikanern: «Nehmt eure Leute zurück!» Und die afrikanischen Regierungen forderten ihrerseits die Möglichkeit von Arbeitsmigration nach Europa. Heute sind die Positionen auf beiden Seiten differenzierter. Wenn wir die Lage nüchtern betrachten, wird deutlich: Wir können die Armut auf dem afrikanischen Kontinent nicht durch Arbeitsmigration nach Europa bewältigen. Die einzige realistische Antwort liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung: Hier sind auch Linke gefordert, neue Antworten zu finden. Umgekehrt höre ich oft, Afrika sei das beste Beispiel dafür, dass Entwicklungszusammenarbeit nichts bringe. Doch während jedes Jahr weltweit 130 Milliarden US-Dollar an Entwicklungshilfe in ärmere Länder fliessen, fliessen gleichzeitig 1000 Milliarden illegal aus diesen Ländern ab. Diese Themen müssen uns beschäftigen!
Europa und besonders die Schweiz tragen einen Grossteil der Verantwortung für diese Armut. Wir exportieren subventionierte Nahrungsmittel in arme Länder, die dortige Anbieter verdrängen. Und die Schweiz hat viele Firmen, die in diesen Ländern Rohstoffe ausbeuten und kaum etwas vom Reichtum dort lassen. Sollte man nicht hier ansetzen statt bei der Entwicklungshilfe?
Entwicklungshilfe ist wichtig. Aber Sie haben recht: Solange Europa subventionierte Nahrungsmittel auf den afrikanischen Markt wirft, kann dort keine eigene Industrie entstehen. Im Niger sagte man mir: «Wie sollen wir eine Nahrungsmittelproduktion aufbauen, wenn ihr eure Produkte zu einem Preis nach Afrika verkauft, mit dem wir niemals konkurrenzieren können?» Ich will es ganz direkt sagen: Die afrikanischen Staaten wurden aus der Kolonialisierung entlassen, doch die Ausbeutung geht unvermindert weiter – durch westliche Staaten ebenso wie durch solche aus dem Osten. Die Schweiz hat viele Rohstoffkonzerne, und die Schweizer Investitionen in Afrika haben sich in den letzten zehn Jahren vervierfacht. Der Bundesrat verfolgt diese Entwicklung aufmerksam. Wir müssen verhindern, dass in der Schweiz Firmen sitzen, die in Afrika Menschenrechte verletzen und die Umwelt schädigen, und dass deswegen Menschen in die Flucht getrieben werden.
Der Bundesrat hat jedoch im Sommer entschieden, an der Subventionierung der Nahrungsmittelindustrie festzuhalten. Zwar will er die neuen, strengeren Auflagen der Welthandelsorganisation (WTO) umsetzen, führt die Subventionierung aber durch die Hintertür weiter.
In der WTO haben sich die wirtschaftlichen Grossmächte immer wieder durchgesetzt, die dafür gekämpft haben, dass die Subventionierung der Nahrungsmittelindustrie möglich bleibt. Die Auswirkungen dieser Politik auf die ärmsten Länder standen nicht im Vordergrund. Man schaut vor allem, dass die Rechnung für die eigenen Unternehmen aufgeht. Die Schweiz ist hier keine grosse Ausnahme.
Der Bundesrat hat sich kürzlich auch gegen die Konzernverantwortungsinitiative gestellt, die verlangt, dass Schweizer Konzerne für Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern hier vor Gericht gebracht werden können.
Der Bundesrat hat in den letzten zwei Jahren drei Aktionspläne dazu verabschiedet. Damit hat er klargemacht, dass Handlungsbedarf besteht. Aber der Bundesrat setzt darauf, dass die Unternehmen freiwillig die Menschenrechte und den Umweltschutz einhalten. Ansonsten würde er auch gesetzliche Massnahmen prüfen.
Daneben will der Bundesrat mit einem Korruptionsartikel im Aktienrecht einen Beitrag zu mehr Transparenz leisten: Rohstoffförderer sollen ihre Zahlungen an Regierungen in Entwicklungsländern offenlegen müssen, damit die lokale Bevölkerung die Einkünfte des Staates kennt. Es ist ein kleiner Schritt, aber er ist nicht unwichtig. Ich hoffe, dass er im Parlament eine Mehrheit findet. Diese Woche berät die Rechtskommission des Nationalrats darüber.
Der Niger ist ein typisches Beispiel für den Rohstofffluch: Dort wird etwa Uran abgebaut, unter anderem für AKWs in der Schweiz. Gleichzeitig ist der Niger eines der ärmsten Länder der Welt.
Ich war dort, wo das Uran abgebaut wird. Die Leute sagten mir: «Wir exportieren Uran, aber haben selber nichts davon – wir haben nicht einmal Strom.» In Rohstoffländern ist der Rechtsstaat oft schwach, und das Recht wird nicht durchgesetzt. Unter diesen Gegebenheiten hätten die Konzerne eigentlich eine ganz besondere Verantwortung. Doch diese nehmen sie längst nicht immer wahr.
Das würde für die Konzernverantwortungsinitiative sprechen.
Der Bundesrat lehnt sie ab. Ich setze mich nun vehement dafür ein, dass wir im Parlament die Transparenzvorschriften für die Rohstoffbranche durchbringen. Und in der Migrationsdebatte will ich bewusst machen, dass es gerade auch die Verletzung der Menschenrechte und die Umweltverschmutzung sind, die die Menschen in die Flucht treiben.