Roadtrip durch den Balkan: «Wir können das Land nicht den Verbrechern überlassen»

Nr. 46 –

Die Länder des westlichen Balkan sind in vielen Bereichen führend in Europa. Bei der Arbeitslosigkeit, Korruption oder beim Rauchen etwa. Und bei der Auswanderung der eigenen Bevölkerung: «Wenn die EU nicht zu uns kommt, dann nehmen wir eben den Bus», lautet ein gängiger Witz in der Region. Was bewegt junge Menschen dort? Warum gehen sie – oder bleiben trotzdem?

  • Wut mit Kunstblut: Demonstration gegen die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts vor dem albanischen Justiz­ministerium in Tirana.
  • «Es ist verdammt schwer, hier Arbeit zu finden und zu überleben»: Luka Tomic, der ursprünglich aus Zagreb kommt, verschönert Mostar mit seinen Graffiti.
  • «Diese Idioten wissen nicht mal, was eine Transperson ist»: Maler Kristofer Andric – hier das Bild, das ihm am wichtigsten ist – fühlt sich in Sarajevo nicht sicher.
  • «Ich habe schon vor zwei Jahren gesagt, dass ich in Serbien bleiben will. Aber da hat mir keiner geglaubt»: Ibrahim Issakan aus Ghana lebt im Flüchtlingslager Krnjaca, am Stadtrand von Belgrad. Foto: Erik Marquardt

Albanien, Tirana

Tirana hat keine mittelalterliche Altstadt, durch die man spazieren kann, dafür aber viele Hochhausblocks und eine Pyramide, auf die man klettern kann. Einst war in der Pyramide das Museum für Enver Hoxha untergebracht, doch der langjährige Diktator starb, und der albanische Kommunismus landete auf dem Müllhaufen der Geschichte. Danach herrschte Chaos, Kämpfe brachen aus, und Hunderttausende verliessen das Land. Heute gibt es ein wenig Stabilität, doch die Menschen gehen immer noch fort von hier. Manche aber bleiben und wollen etwas zum Besseren verändern.

Sechzig DemonstrantInnen haben sich vor dem Justizministerium versammelt. Sie demonstrieren gegen Femizid, die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Anlass ist der Mord an der 39-jährigen Richterin Fildes Hafizi, die am 31. August in Tirana auf offener Strasse von ihrem Exmann ermordet wurde. Die Richterin hatte zuvor erfolglos versucht, eine Schutzverfügung zu erwirken.

Nach einigem Reden kommt es zu Gerangel. Eine Demonstrantin packt mit roter Farbe gefüllte Luftballons aus ihrem Rucksack und wirft sie gegen das Gebäude. Die schwarzen Lettern, die sich zu «Justizministerium Albaniens» zusammenfügen, versinken im Kunstblut. Die Werferin verschwindet, die anderen beginnen einen Marsch durch die Innenstadt.

Unter ihnen ist auch Gresa Hasa. Die Studentin trägt eine Sonnenbrille und eine Blume am Ohr, die aus ihrem langen roten Haar hervorsticht. In ihrer Hand hält sie ein Plakat, auf dem steht: «Wenn du wütend wirst, dann spül Geschirr, töte nicht deine Frau, du Schwanz!» Die 24-jährige Feministin empört sich: «Wenn nicht mal eine Richterin vor ihrem gewalttätigen Expartner geschützt werden kann, wie sollen das dann andere Frauen schaffen?» Gewalt gegen Frauen ist in Albanien Alltag.

Hasa erklärt sich das so: «Es hat mit den politischen und historischen Traumata zu tun, die wir als Gesellschaft erlebt haben. Enver Hoxha hat ein stalinistisches Regime geschaffen; Albanien war damals so isoliert wie Nordkorea heute.» So schlimm wie in Nordkorea ist es heute nicht mehr, doch der Marsch wird trotzdem von der Polizei angehalten. Bevor sich die Demonstration auflöst, zünden Hasa und andere neben dem Bild der ermordeten Richterin Kerzen an.

Nirgendwo auf dem Balkan werden so viele Frauen ermordet wie in Albanien. Gleichzeitig hat das albanische Regierungskabinett einen der höchsten Frauenanteile der Welt. Als der sozialistische Premierminister Edi Rama im Juni die Wahl gewann, ernannte er genauso viele Frauen wie Männer. Ein Hauch von Justin Trudeau im Regierungsviertel von Tirana?

Gresa Hasa winkt ab: «Das sind nur Zahlen. Diese Frauen haben oft gegen emanzipatorische Vorhaben gestimmt. Mit Feminismus hat das nichts zu tun.»

Das Wochenende nach der Demonstration verbringt Gresa Hasa etwas ausserhalb der Innenstadt in einem unscheinbaren Haus: dem selbstverwalteten Zentrum Logu i Shkëndijës. Hasa ist hier Mitglied. Drinnen gibt es kein fliessendes Wasser, dafür aber literweise selbstgebrannten Raki. Nach dem gefühlt 20. Schnaps sagt ein junger Mann an der Bar: «Das ist der beste Ort in Albanien. Sonst haben wir nichts.»

Viele StudentInnen sind hier, manche von ihnen gehören zu den rund 20 000 CallcenterarbeiterInnen der Stadt, die sich am Telefon als Italiener oder Deutsche ausgeben, um Menschen im Ausland einen neuen Stromvertrag anzudrehen. Es gibt sogar zweimonatige Intensivsprachkurse für dreissig Euro, um eine Sprache callcentergerecht zu lernen. Viele nutzen die erworbenen Kenntnisse, um Albanien zu verlassen.

Im Sommer sei mehr los, berichten die trinkfesten Gäste des Logu i Shkëndijës. Dann kämen auch die «Genossen» zu Besuch, die gerade im Ausland sind. Ansonsten ist es eine kleine Gruppe, die hier die Stellung hält. In Albanien leben rund 2,8 Millionen Menschen. Deutlich mehr Landsleute sind in aller Welt verteilt. Das Durchschnittseinkommen von rund 350 Franken im Monat und das korrupte Klientelsystem, bei dem nur einen Job bekommt, wer die richtigen Kontakte hat, treiben vor allem die Gutqualifizierten aus dem Land.

Auch Gresa Hasa hat sich überlegt, Albanien zu verlassen: «Manchmal fühle ich mich demoralisiert und will nur noch weg. Ich werde jetzt erst mal ins Ausland gehen, um mich weiterzubilden.» Im Gegensatz zu vielen ihrer AltersgenossInnen will Hasa aber nach Albanien zurückkehren, um für Feminismus und gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit zu streiten: «Wir können nicht alle gehen und das Land den Verbrechern überlassen.» Ins Logu i Shkëndijës wird sie nicht zurückkehren können. Es war einer der letzten Kneipenabende. Das Gebäude wurde kurz darauf abgerissen, um Platz für weitere Hochhausblocks zu schaffen.

Bosnien-Herzegowina, Mostar

Von Albanien aus geht es nordwärts nach Bosnien-Herzegowina. Tirana und Mostar trennen eigentlich nur 360 Kilometer Strecke, doch wegen der langen Schlangen an den Grenzübergängen und der schlechten Strassen kann die Reise auch mal zwölf Stunden dauern. Bosnien-Herzegowina hat der jugoslawische Nachfolgekrieg am härtesten getroffen. 100 000 Tote und zwei Millionen Vertriebene. Das Land ist heute geteilt zwischen BosniakInnen, SerbInnen und KroatInnen. Wirtschaftlich ruiniert, dafür politisch immerhin annähernd stabil. Gründe zur Flucht gibt es offiziell keine; wer kann, verlässt das Land trotzdem.

Luka Tomic malt mit weisser Farbe über die Wand neben einer Fahrradwerkstatt im Abrasevic, dem autonomen Zentrum Mostars. Danach nimmt er einen dünneren Pinsel in die Hand, um die Umrisse eines Fahrrads und das Wort «Cycloscopia» an die Wand zu malen. Der Lenker ist dem Geweih eines Hirschs nachempfunden. Der 22-Jährige hilft dabei, auch die Teile der Stadt bunter zu gestalten, die noch vom Krieg gezeichnet sind. Nachdem er damit fertig ist, läuft Tomic zu einer achtstöckigen Bauruine, die einmal eine Bank war und während des Kriegs als Turm für Scharfschützen diente. Heute ist das Gebäude voller Graffiti. Das grösste davon prangt in schwarzen Buchstaben vom obersten Stockwerk und ist eine Kritik an der Teilung der Stadt: «Teile und herrsche» steht dort geschrieben.

Tomic klettert über eine Mauer im Hinterhof in das Erdgeschoss des Gebäudes. Die Treppen führen bis in den achten Stock. Geländer gibt es nicht. Auf dem Weg sind viele seiner Werke zu finden. Menschenkörper mit Tierschädeln und abstrakte Köpfe, deren Proportionen nicht stimmig sind, haben es ihm angetan. Vom Stil her eine kubistische Variante südosteuropäischer Street Art. Tomic liebt Bauruinen. In seiner Heimatstadt Zagreb hat er ganze Gebäude von innen angemalt, bevor sie abgerissen wurden.

Über dem Dach des Bankgebäudes geht langsam die Sonne unter. Der Ausblick richtet sich auf die umliegenden Berge und die aus der Stadt emporsteigenden Minarette und Kirchtürme. Tomic blickt auf Mostar hinab und sagt: «Die Natur und die Menschen sind wunderschön. Ich würde gerne hierbleiben.»

Er kam aus Kroatien nach Bosnien-Herzegowina, um zu studieren. Ihn stört die Trennung zwischen KroatInnen und BosniakInnen in der Stadt, aber das ist nicht der einzige Grund, warum er nach seinem Studium wahrscheinlich nicht hierbleiben wird: «Es ist verdammt schwer, hier Arbeit zu finden und zu überleben. Meine Freunde halten mich schon für verrückt, weil ich fürs Studium hergekommen bin.»

Mostar ist eine Stadt, die um eine Brücke herum entstanden ist. Im Bosnienkrieg wurde diese zerstört. Physisch und zwischen den Menschen, die hier noch leben. Einst lebten BosniakInnen, SerbInnen und KroatInnen friedlich zusammen. Es gab viele interreligiöse Ehen. Heute gibt es getrennte muslimische und katholische Stadtteile.

Hussein Orucevic will die Teilung überwinden. Er ist Mitte vierzig, trägt eine Baseballmütze, die sein grauer werdendes Haar verdeckt, und einen blauen Hoody: «Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, in der nicht alles nach Nationalität getrennt ist. In der nicht alles, was man anfasst, kroatisch, bosniakisch oder serbisch ist.»

Um dieses Ziel zu erreichen, engagiert er sich im Abrasevic, dem einzigen linken Kulturzentrum in ganz Bosnien-Herzegowina. Es besteht aus mehreren Gebäuden, von denen eins noch mit Einschusslöchern übersät ist. Das Gebäude stand direkt an der Frontline. Heute versucht Orucevic, von hier aus Bosnien-Herzegowina wieder aufzubauen. Als Ganzes und für alle Menschen, die hier leben.

«Heute sind wir die Brücke in dieser Stadt. Hier kommen Menschen aus beiden Teilen der Stadt zusammen und definieren sich über Kultur und gemeinsame Interessen, nicht über ihre Nationalität.»

An der Trennung des Landes gibt Orucevic den PolitikerInnen die Schuld. Sie reden nicht darüber, Bosnien-Herzegowina zusammenzuführen, im Gegenteil. In Mostar werden schon die Kinder in getrennte Schulen geschickt. Die einen lernen die bosniakische Version der jüngeren Geschichte, die anderen die kroatische. Das macht seine Arbeit so schwierig.

«Das ganze System ist darauf ausgelegt, Menschen zu trennen. Man ist eigentlich schon gegen das System, wenn man ins Abrasevic kommt.» Orucevic beschreibt das Zentrum als sein Asyl. Ein Asyl, an dem er seit dem Ende des Kriegs selber mitarbeitet. Ein Ort für Menschen, die keine Lust mehr auf Nationalismus und Hass haben.

Bosnien-Herzegowina, Sarajevo

Entlang der Neretva, die grünlich schimmert, geht es von Mostar nach Sarajevo. Dort sitzt Kristofer Andric im Café Kriterion, einem der wenigen LGBT-freundlichen Orte in Bosnien-Herzegowina. An den Wänden hängt queere Kunst. Die Zeichen an beiden Klotüren sind Unisexvarianten. Auch Andric stellt hier seine Kunst aus.

Kristofer Andric ist 24 Jahre alt und trägt einen viel zu grossen Pullover. Auch er will weg. Aber aus anderen Gründen als Tomic aus Mostar. «Das ‹Kriterion› ist einer der wenigen Orte, an denen ich mich wirklich sicher fühle», sagt er. Andric lebt nicht das Geschlecht, das ihm bei seiner Geburt zugeschrieben wurde. Etwas war immer anders. Was genau, wurde ihm erst bewusst, als er vor sechs Jahren aus einer Kleinstadt nach Sarajevo zog: «Da habe ich verstanden, dass ich eine Transperson bin.»

Sein Gesicht will er nicht in der Zeitung sehen. Irgendwelche Rechten, Hooligans oder Islamisten könnten ihn sehen und angreifen. Seine Kunst versteht er als Mittelfinger an diese Leute. Dabei wirkt Andric viel zu höflich und zuvorkommend, um jemandem den Mittelfinger zu zeigen.

Er dreht sich eine Zigarette: «Mit meiner Kunst will ich die Wahrheit über Transpersonen erzählen.» Andric muss nicht lange überlegen, welches seiner Bilder ihm am wichtigsten ist. Es zeigt eine Person mit Bartstoppeln und männlichen Gesichtszügen, die sich ihre Brust mit einer Binde schnürt. So wie es Andric auch macht, was manchmal Rückenschmerzen verursacht. Hormonbehandlungen und Operationen will er aber nicht: «Wenn man akzeptiert, wer man ist, dann reflektiert das auch der Körper.»

Die eigene Umgebung reflektiert es nicht. Bosnien-Herzegowina ist neben Mazedonien das einzige Land auf dem Balkan, in dem es noch nie eine Gay Pride gab. Die meisten LGBT-Menschen in Bosnien-Herzegowina outen sich nicht, aus Angst vor den Eltern, der Umgebung und den NachbarInnen in dem ländlich geprägten Land. Selbst innerhalb der LGBT-Community musste sich Andric behaupten: «Anfangs kamen noch Sprüche wie: Du siehst ja gar nicht aus wie ein Mann, und so ein Scheiss. Wir sind eine kleine Gruppe. Dann müssen wir doch wenigstens zusammenhalten.»

Deshalb gibt es einen Exodus von LGBT-Menschen aus Bosnien-Herzegowina, dem er sich bald anschliessen will. Sie gehen nach Irland, Deutschland und in die Schweiz. Andric lernt Deutsch und möchte in Berlin weiterstudieren. «Ich habe nicht die Energie, um hierzubleiben und etwas zu verändern. Das dauert mindestens noch zwanzig Jahre, und so lange kann ich nicht warten.» Seine Familie unterstützt ihn, aber auch sie sagen, er solle besser das Land verlassen.

Mehrmals wurde er angegriffen, geschlagen, musste den Notausgang nehmen oder sich in Hauseingänge flüchten. Auch das «Kriterion» wurde im März 2016 von Hooligans attackiert, als dort eine Veranstaltung mit dem Titel «Transsexualität in Transition» stattfand. Er wurde angegriffen, weil die Hooligans ihn für schwul hielten. «Diese Idioten wissen nicht mal, was eine Transperson ist», sagt er verärgert.

Neben den Gefahren und den Versteckspielen ist es aber auch die Langeweile, die LGBT-Menschen aus dem Land treibt. Es gab mal einen queeren Club, aber der hat vergangenes Jahr zugemacht. Meistens trifft sich Andric mit Freunden zu Hause: «Ich gehöre nicht hierher», sagt er. Doch wenn alle das Land verlassen, wer kümmert sich dann um die jüngeren LGBTs? «Ich werde für sie da sein. Es gibt ja immer noch das Internet.»

Serbien, Belgrad

Als im Herbst 2015 Hunderttausende Flüchtlinge auf der sogenannten Westbalkanroute Serbien durchquerten, wollten die meisten rasch weiter nach Österreich, Deutschland und Schweden. Niemand wollte lange in Serbien bleiben. Niemand ausser Ibrahim Issaka. Issaka lebt im Flüchtlingslager Krnjaca am Stadtrand von Belgrad, weit entfernt von den belebten Strassen der Innenstadt. Der Putz fällt von den Wänden. Die Zimmer in den Baracken sind klein und ungemütlich. Im Winter falle die Heizung regelmässig aus, berichten die BewohnerInnen. Wenigstens gibt es dreimal täglich etwas zu essen.

«Ich habe schon vor zwei Jahren gesagt, dass ich in Serbien bleiben will. Aber da hat mir keiner geglaubt», sagt Issaka und schiebt seine Dreadlocks nach hinten.

Eigentlich wollte er nach Deutschland. Weil er den FC Bayern München und Philipp Lahm so liebt. Als er vor zwei Jahren hier ankam, war die «Balkanroute» noch viel durchlässiger. Das war, bevor mitten in Europa wieder neue Zäune aufgestellt wurden. An der Grenze Serbiens zu Ungarn und zu Kroatien. Issaka floh als Fünfzehnjähriger aus Ghana, um einer Familienfehde zu entkommen. Nach drei Jahren landete er in Serbien und blieb.

«Ich habe rasch gute Freunde gefunden, mit denen ich Fussball spielen kann», sagt der Zwanzigjährige in sehr gutem Serbisch. Beigebracht haben ihm das die Kicker des benachbarten Vereins OFK Belgrad. Der Leiter des Flüchtlingslagers gab ihm den Spitznamen Maradona nach seinem Lieblingsfussballer. Das freut ihn sehr.

Issaka zeigt auf seinem Smartphone Videos von sich und Freunden, wie sie serbische Volkslieder grölen. Abgesehen von Issaka, scheinen die meisten stark alkoholisiert zu sein. «Ich bin gläubiger Muslim. Alkohol ist nicht so mein Ding», sagt er. «Aber die Jungs werden dann lustig. Ich schaff das auch ohne.» Er mag seine Kumpels, und er mag Belgrad. Alle seien nett zu ihm. Rassismus, das betont er, sei in Serbien kein Thema. Issaka hat ein eigenes Zimmer bekommen, weil er beim serbischen Flüchtlingskommissariat arbeitet und zweimal die Woche in einem anderen Flüchtlingsheim aushilft. Das ist ein Privileg. Zumeist schlafen in Krnjaca vier bis sechs Personen in einem Zimmer.

Ibrahim Issakas Geschichte ist besonders. So besonders, dass er auch bei serbischen Medien durchgereicht wird, die zeigen wollen, wie menschlich die serbische Asylpolitik ist. Aber seine Geschichte ist nur eine von vielen. Und es ist eine der wenigen guten.

Die serbische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, Flüchtlinge aufzunehmen. Im laufenden Jahr wurden ganze zwei Asylanträge bewilligt. Im Winter machte Serbien international Schlagzeilen, weil die Versorgung von Flüchtlingen so schlecht war, dass rund 1500 Menschen, darunter viele Jugendliche und Kinder, bei bis zu minus sechzehn Grad in Bauruinen im Zentrum Belgrads ausharren mussten.

Auch Issaka hat nach über zwei Jahren noch immer keine Entscheidung über seinen Asylantrag. Seine Duldung muss er alle sechs Monate erneuern lassen. Er ist einer der wenigen Geflüchteten, die in Serbien bleiben wollen. Ob er bleiben darf, weiss er immer noch nicht.

Mazedonien, Skopje

Letzte Station Mazedonien: Das einzige Land auf dem westlichen Balkan, dem in den letzten Jahren ein Aufbruch gelang. Viele MazedonierInnen gingen im Frühjahr 2015 gegen den korrupten und immer autokratischer regierenden Premierminister Nikola Gruevski auf die Strasse. Die Proteste steigerten sich 2016 zur «bunten Revolution»: Mit Farbbeuteln, die sie mittels selbstgebauter Katapulte gegen Fassaden schleuderten, veränderten die DemonstrantInnen erst das Antlitz Skopjes und wählten dann die nationalkonservative Regierung ab.

«Es muss jetzt besser werden, nachdem wir diesen Diktator losgeworden sind», sagt die Schriftstellerin Rumena Buzarovska und zündet sich eine Zigarette an. Seit die SozialdemokratInnen an der Macht sind, wird das Rauchverbot in Lokalen nicht mehr so streng gehandhabt. Die 36-Jährige sitzt mit Freunden und Kolleginnen in der osmanischen Altstadt Skopjes. Das moderne Zentrum meiden sie, seit die Vorgängerregierung dort über 700 Millionen Franken in den Bau von pseudoantiken Kitschbauten steckte, die identitätsstiftend sein sollten, aber stattdessen die Massenproteste gegen die Regierung befeuerten.

«Dieses Bauprojekt ist nicht nur eine Manifestation der monumentalen Korruption und eines lächerlich schlechten Geschmacks», sagt Buzarovska. «Es ist ein Wahnsinn, dessen falsche Pracht auf den bevorstehenden Fall hindeutete.» Gruevski ist gefallen. Die Gruppe stösst auf die «bunte Revolution» und eine «bessere Zukunft» an.

Buzarovska ist eine gefragte Autorin auf dem Balkan. In Serbien und Kroatien steht sie mit ihrem Buch «Mein Ehemann» derzeit auf den Bestsellerlisten. In ihren Geschichten geht es oft um schwache Männer, die sich für stark halten und den Menschen in ihrer Umgebung, allen voran den Frauen, das Leben zur Hölle machen. Diese Männer beschreibt sie als Ergebnis der retraditionalisierten Männlichkeitsbilder auf dem Balkan: «Gruevski ist ein Produkt unserer Machokultur, das ist absolut klar.» Seit Gruevski weg ist, bewege sich Mazedonien in die richtige Richtung. Buzarovska spricht, wie sie schreibt, präzise, auf den Punkt, ohne grosse Sentimentalitäten: «Ich habe Hoffnung, weil wir in den vergangenen Jahren eine kritische Geisteshaltung entwickelt haben und nicht wollen, dass die Geschichte sich wiederholt.» Doch in die Hoffnung mischt sich auch Misstrauen: «Wir haben viele Herausforderungen vor uns. Wir müssen alles tun, um nicht wieder in das korrupte und dysfunktionale System zurückzufallen, das uns zehn Jahre lang aufgezwungen wurde.»

Ein anderer Gast wedelt mit seinen Händen den Rauch aus seinem Gesicht, macht eine angeekelte Grimasse und sagt: «Ich mag diesen Gruevski wirklich nicht, aber wenigstens hat der noch das Rauchverbot durchgesetzt.» Seit die neue Regierung an der Macht ist, tauschen viele MazedonierInnen ihre alten Parteibücher gegen neue ein. Nicht aus politischer Überzeugung, sondern weil sie hoffen, dann ihre Jobs beim Staat behalten zu dürfen. Sie rechnen fest damit, dass die alte Vetternwirtschaft durch eine neue ersetzt wird. «Ich habe meine Zweifel, aber wer weiss, vielleicht wird es ja wirklich besser», sagt er. «Aber das verdammte Rauchen sollten sie verbieten.»

Auf dem Balkan Karte: WOZ

Strenge Rauchverbote und ein optimistischer Blick auf die Zukunft des eigenen Landes – das wäre zumindest etwas Neues auf dem westlichen Balkan. Dem Teil Europas, dem so viele Menschen den Rücken kehren, um ihr Glück woanders zu versuchen.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen