Von oben herab: Märchenstunde

Nr. 46 –

Stefan Gärtner über das Phänomen Linksextremismus

Es war einmal vor gar nicht langer Zeit, als im Lande zwischen Meer und Gebirge, Rhein und Oder die weise Königin des Stillstands herrschte, da wütete in der reichen Stadt Hamburg eine wilde Räuberbande, die sich «die Linksextremen» nannte. In Hamburg trafen sich gerade Könige und Königinnen aus aller Welt, und die Linksextremen, die bekanntlich gegen alles sind, insbesondere aber gegen Könige und Königinnen, schlugen erst alles kurz und klein und verprügelten dann die wackere Polizei. Es war dies sehr ungerecht, denn die Polizei hatte gar nichts gemacht, und wenn die Leute von Hamburg, die da wohnten, wo die Linksextremen gewütet hatten, sich beschwerten: «Ja, wir haben direkt gesehen, wie Scheiben zerbarsten, Parkautomaten herausgerissen, Bankautomaten zerschlagen, Strassenschilder abgebrochen und das Pflaster aufgerissen wurde. Wir haben aber auch gesehen, wie viele Tage in Folge völlig unverhältnismässig bei jeder Kleinigkeit der Wasserwerfer zum Einsatz kam. Wie Menschen von uniformierten und behelmten Beamten ohne Grund geschubst oder auch vom Fahrrad geschlagen wurden», dann mussten sie das geträumt haben. Woher kamen schliesslich die 700 verletzten, zu Brei und Klump geschlagenen Beamtinnen und Beamten? Und vor allem: Wo blieben sie dann? Denn nach einer ziemlich kleinen Weile waren aus den 700 wie durch ein Wunder 30 geworden, die bloss müde von ihren überlangen Einsätzen waren, die darin bestanden hatten, Menschen ohne Grund zu schubsen oder vom Fahrrad zu schlagen.

«Wir hatten als Anwohner mehr Angst vor den mit Maschinengewehren auf unsere Nachbarn zielenden bewaffneten Spezialeinheiten als vor den alkoholisierten Halbstarken, die sich gestern hier ausgetobt haben. Die sind dumm, lästig und schlagen hier Scheiben ein, erschiessen dich aber im Zweifelsfall nicht.» Weil sie eben auch keine Schiessgewehre dabeihatten? Oder Waffen überhaupt? Diese und ähnliche Fragen stellten sich sogar die Zeitungen, denn es gab da ein Polizeivideo: «Ein dritter Bengalo landet auf der Strasse, wieder zu weit entfernt von den Beamten, um als eine versuchte Körperverletzung gelten zu können. Irgendwo knallt ein Böller. Ein Polizeiführer hat jetzt genug, wie man im Video hören kann: ‹Bleib stehen›, befiehlt er dem Fahrer eines Polizeibusses, der noch im Schritttempo voranrollt, ‹steigt aus, mir reicht das aus.› Auf das Kommando hin stürmen die Polizisten los, die Demonstranten drehen sich um und rennen fort. 6.28:36 Uhr: Wasserwerfer beschiessen von hinten die Demonstranten, die also eingekesselt worden sind. Was man in dem Video nicht sieht: einen einzigen Steinwurf. Oder eine einzige Flasche. Unmittelbar angegriffen wurde – zumindest vor dem Sturm der Polizei – kein Beamter» («Süddeutsche Zeitung»).

Und da waren dann alle sehr empört – allerdings über die Linksextremen, und der Justizminister von der Partei der Arbeiterinnen und Arbeiter wünschte sich sogar ein «Rock gegen links». Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sollen sie zum Teufel gehen. –

Dies ist, zugegeben, ein sehr deutsches Märchen; denn die Märchen in der Schweiz gehen freilich völlig anders: «Linksextreme … schleusen sich in Unternehmen ein, spionieren diese aus und begehen Sabotage. Das erzählt eine sehr gut informierte Person; allerdings macht sie keine genaueren Angaben zum Phänomen» (NZZ, 12. 11.). Und wenn sie nicht gestorben sind? Die sind unsterblich.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er auch das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.