Woina versus Wasserstrasse: Wie im falschen Film
Renitente russische KünstlerInnen werden aus einer Basler Wohngenossenschaft geschmissen, ein heimlich gefilmtes Video macht die Runde und ein Gericht schreitet zum grotesken Prozess: Eine TV-Soap aus dem realen Leben.
«Es geht darum, die Aktionen so vielschichtig zu planen, dass die einzelnen Teile nicht zu verstehen sind. Wenn also die Leute von aussen zusehen, dann sollen sie die einzelnen Handlungen nicht begreifen.»
Natalia Sokol, Woina
Der Staatsanwalt verliest die Anklagepunkte monoton und emotionslos: «Freiheitsberaubung, Entführung, Raub, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Angriff.» Bis zu vier Jahre Gefängnis wird er im Verlauf der mehrtägigen Verhandlung fordern. Schräg vor ihm sitzen die zehn Beschuldigten – BewohnerInnen der Wasserstrasse im Alter von 29 bis 61 Jahren. Hinter ihnen zehn VerteidigerInnen. Das Basler Strafgericht verhandelte vergangene Woche einen verwirrenden Fall.
Die Häuserreihe Wasserstrasse 21 bis 39 im Basler Quartier St. Johann gehört zur alternativen Wohngenossenschaft Gnischter. Die gut vierzig Wohneinheiten mit Familien und Wohngemeinschaften organisieren sich weitgehend hierarchiefrei und selbstverwaltet. Im April 2015 soll das russische Kunstkollektiv Woina, bestehend aus Oleg Worotnikow, der schwangeren Natalia Sokol und deren Kindern, in die Wasserstrasse 21 eingezogen sein: «Gedacht war diese Unterbringung als vorübergehende Bleibe für wenige Tage, um in der Schweiz ein Asylgesuch stellen zu können», heisst es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft.
Eingereicht wurde das Asylgesuch nie. Ein KünstlerInnenpaar mit kleinen Kindern, ohne legalen Aufenthaltsstatus – man habe die Familie ohne Zögern aufgenommen und ihnen einen Gemeinschaftsraum zur Verfügung gestellt, heisst es aus der Wasserstrasse. Das Zusammenleben mit der Familie sei aber zunehmend schwierig geworden. Unter anderem seien GastgeberInnen beklaut und von Worotnikow sexistisch beleidigt worden. Man habe die Familie mehrfach zum Auszug aufgefordert. Sie habe sich geweigert.
Gefilmter Rausschmiss
Ultimaten verstreichen. Aus den wenigen Tagen werden zehn Monate. Angebote, der Familie bei der Suche nach einer neuen Bleibe zu helfen, seien auf «demonstratives Desinteresse» gestossen. Als eine Bewohnerin zudem tätlich angegriffen und der anschliessende Streit von Sokol heimlich gefilmt und online veröffentlicht worden sei, habe dies «dem Zusammenleben jegliche Basis entrissen».
Am 20. März 2016 sollen die Angeklagten die Woina-Familie gegen deren Willen aus dem ausgebauten Dachboden der Wasserstrasse 21 geschmissen haben. Was genau an dem Tag passiert ist, bleibt auch vor Gericht unklar. Die Angeklagten schweigen, die Woinas tauchen gar nicht erst am Prozess auf. Ein Video, das Sokol und Worotnikow mit verdeckter Kamera auf dem Dachboden aufgenommen hatten, wird somit zum einzigen verwertbaren Beweismaterial.
Ob dieses Video aber rechtlich überhaupt als Beweis zulässig ist, ist umstritten. Denn es ist fraglich, ob die Woinas auf dem Dachboden eine Kamera installieren durften. Sokol und Worotnikow hätten keine Miete bezahlt, der Dachboden habe zu den Räumen der GastgeberInnen gehört, sagen deren AnwältInnen. Die Familie habe zehn Monate in dem Raum gelebt, argumentiert hingegen der Staatsanwalt, dadurch habe sie sich ein Recht erwirkt, dort zu wohnen und zu filmen. Das Gericht folgte dem Staatsanwalt und erklärte das Video für zulässig. Diesen Entscheid wird wohl das Appellationsgericht prüfen.
Im Video ist zu hören, wie mehrere Personen die Familie auffordern, endlich zu gehen. Es lässt den Schluss zu, dass jemand Worotnikow Pfefferspray ins Gesicht sprüht. Man sieht, wie Sokol und ihr Mann Holzstücke in Richtung Eingang werfen. Wie etwa zwölf Leute, teilweise mit Schutzschilden und Helmen ausgerüstet, in den Raum kommen, wie Worotnikow überwältigt wird, wie Sokol und die Kinder schreiend hinausgetragen werden. Und wie die Sachen der Familie gepackt und ebenfalls hinausgebracht werden.
Serie mit zwei Staffeln
Im Grunde ist der Basler Fall nur ein Bruchteil einer viel längeren Geschichte. Wäre sie eine Fernsehserie, so würde die erste Staffel in St. Petersburg spielen. Sie würde von einem provokanten Kunstkollektiv handeln. «Woina» heisst auf Deutsch Krieg, und den hatten die KünstlerInnen damals dem russischen Regime erklärt – inzwischen sprechen sie sich dezidiert für die Politik Wladimir Putins aus. Die Gruppe filmte Performanceaktionen und verbreitete sie online (siehe WOZ Nr. 10/2016 ).
Mit ihrer «Fuck the system»-Kunst überschritten sie Grenzen, moralische und legale: Mal wurde Gruppensex in einem Museum inszeniert, mal ein Polizeiwagen abgefackelt. Internationale Aufmerksamkeit erlangten die KünstlerInnen, als sie einen überdimensionierten Penis auf eine Hebebrücke vor dem Geheimdienstgebäude pinselten. Mehrmals wurden die Woinas verhaftet, Worotnikow drohten mehrere Jahre Gefängnis, Russland liess ihn via Interpol ausschreiben. Das Paar flüchtete mit den Kindern nach Westeuropa ins Exil.
Dort würde die zweite Staffel einer zunehmend verdrehten und verstörenden Serie beginnen. Der Fall an der Wasserstrasse erscheint wie eine weitere Episode. Jene davor hatte in Zürich gespielt: «Die Woinas hinterlassen eine Spur der Zerstörung», sagte Sonia Bischoff, Kuratorin des Zürcher Cabaret Voltaire, 2016 der «TagesWoche». Sie habe Sokol und Worotnikow fast neun Monate lang begleitet und finanziell unterstützt – heute wolle sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Das Asylgesuch sei ein «Lügenkonstrukt», den Woinas gehe es nur darum, auf Kosten anderer zu leben.
Vor Zürich waren Worotnikow und Sokol in Italien. BewohnerInnen eines besetzten Hauses in Venedig hatten die Familie aufgenommen. «Aus den vereinbarten Tagen wurden Monate», schreiben die ehemaligen UnterstützerInnen auf einer Website. Die Situation sei untragbar geworden und eskaliert, als die BesetzerInnen die Woinas aufgefordert hätten zu gehen – und Worotnikow sie mit einer Axt bedroht habe. Auch damals spielten Sokol und Worotnikow den Medien und der Polizei Videoaufnahmen zu.
Nach dem Vorfall in Basel reiste die Familie nach Tschechien. «Wir bereuen nicht, ihnen geholfen zu haben, aber wir werden damit nicht weitermachen», sagt die Prager Kunstgruppe Ztohoven, die sie ebenfalls beherbergt hatte. Man habe keinerlei Vertrauen mehr zu Woina.
Mit jeder Station dreht sich die Geschichte weiter, wird absurder. Woina richtet die Waffen seiner Kunst nicht mehr gegen das Regime, sondern gegen seine UnterstützerInnen, wenn deren Solidarität an ihre Grenzen stösst.
Zirkus im Gericht
In unserer Serie erinnert der Basler Prozess an das Format einer trashigen Gerichtssendung à la «Richter Alexander Hold». Da gibt es etwa den Staatsanwalt Camilo Cabrera, der plötzlich doppelt so hohe Strafen für die Beschuldigten beantragt, wie er selbst zuvor in der Anklageschrift gefordert hatte. Und da ist die Strafgerichtspräsidentin Katharina Giovannone, die wichtige russisch gesprochene Passagen im Beweisvideo nicht im Vorfeld übersetzen liess – und deshalb spontan eine Russisch sprechende Zuschauerin zur Unterstützung der akkreditierten Gerichtsübersetzerin in den Zeugenstand ruft.
Weil die Gerichtspräsidentin zudem immer wieder vom «Überfall» in der Wasserstrasse statt vom «Vorfall» spricht, werfen ihr die AnwältInnen Befangenheit vor. Verteidiger Nr. 5, Andreas Noll, beantragt mehrmals, weitere Kunstvideos als Beweismittel zuzulassen – «um zu zeigen, wie Woina funktioniert». Es handle sich um Inszenierungen. «Das sind Regiebücher; die Leute, die da drauf sind, sind Statisten.» Als die Richterin den Antrag abweist, spielt Noll kurzerhand ein Video auf seinem Computer ab.
Darin ist zu sehen, wie Worotnikow und Sokol ihrem Anwalt einen USB-Stick klauen. «Die Schweizer Hurensöhne wollten mich meiner modernen Kunst berauben!», ruft Worotnikow im Video und hält einen Stick in die Kamera. Darauf ist die Videodatei, die den Rausschmiss aus der Wasserstrasse dokumentiert. Kurz darauf, pünktlich zum Prozessbeginn, veröffentlichen diverse Medien das Video online. Der Anwalt der Woinas hat daraufhin sein Mandat niedergelegt.
«Woina inszenierte eine schmierige Komödie, wodurch das Verfahren zur Farce geworden ist. Sie sind Zirkusdirektoren, wir sind die Clowns», sagt Martin Kubli, Anwalt Nr. 8, in seinem Plädoyer. Thomas Heeb, Verteidiger Nr. 3, fügt hinzu: «Die Privatkläger haben einzig zum Ziel, sich in den Medien als arme Opfer zu inszenieren.»
Die Familie ist trotz Vorladung nicht vor Gericht erschienen. Sie wohnten derzeit auf einem Hausboot in Berlin, schreiben Oleg Worotnikow und Natalia Sokol per E-Mail, als die WOZ sie mit den Vorfällen konfrontiert. «Wir wissen nicht, was Sie mit ‹ehemaligen Unterstützern› meinen, wir hatten nie Unterstützung in Europa.» Den Rausschmiss an der Wasserstrasse nennen sie durchweg «die Entführung» – eine angeblich von Kuratorin Bischoff gemeinsam mit der SP Schweiz und den «Kidnappern» der Wasserstrasse geplante Tat.
Auf die Frage, warum eine Partei so etwas tun sollte, schreiben sie unter anderem: «Auch der Basler Staatsanwalt Cabrera unterstützt die Kidnapper.» Und warum haben sie ihrem Anwalt den USB-Stick geklaut? «Nachdem wir realisiert haben, dass die Staatsanwaltschaft uns unsere Dateien nie zurückgeben wird, haben wir ein Szenario kreiert, wie wir es normalerweise tun, wenn wir eine neue Woina-Aktion vorbereiten.»
Die Episode in Basel ist nun vorerst zu Ende. Das Strafgericht spricht drei Personen von den Vorwürfen frei. Die anderen verurteilt es zu bedingten Gefängnisstrafen bis zu zwölfeinhalb Monaten – wegen Freiheitsberaubung, mehrfacher Nötigung, versuchter leichter Körperverletzung und Hausfriedensbruch. Die Rechnung des Gerichts ist simpel: Wer geholfen hat, eine Person hinauszutragen, bekommt acht Monate, wer zwei Personen aus der Wohnung beförderte, erhält dafür zehn Monate. Diejenigen Beschuldigten, die sich mit den Woinas das Haus geteilt hatten, bekommen einen Monat Strafreduktion – da sie doch einen «besonderen Leidensdruck» gehabt hätten.
Ob die BewohnerInnen der Wasserstrasse gegen das Urteil Beschwerde einreichen, ist noch nicht bekannt. Bislang begegnen sie den filmreifen Geschehnissen mit bitterem Zynismus. Neben der Treppe, die hinauf zum Dachstock führt, klebt ein Zettel: «Dieses Objekt ist alarmgesichert und videoüberwacht.»