Deniz Yücel: Es geht darum, sich nicht zu ergeben

Nr. 8 –

Am Freitag ist der deutsche Journalist Deniz Yücel nach rund einem Jahr aus der Haft in der Türkei entlassen worden. Ein Sammelband mit seinen Texten zeigt eindrücklich, was Journalismus bewirken kann.

Ganz am Ende von Deniz Yücels neuem Buch, nach mehr als 200 Seiten voller Reportagen, Interviews, Kommentare und Glossen, voller scharfsinniger Satire und herzzerreissender Tragikomik, steht die Begegnung mit einem nervtötenden Wellensittich. Der Wellensittich gehört Cengiz, einem Kämpfer der PKK, der beinahe noch ein Kind war, als er sich dem bewaffneten Kampf verschrieb – Cengiz, der inzwischen 43 Jahre alt ist und die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht hat.

Seine Geschichte ist der einzige bisher unveröffentlichte Beitrag im Sammelband «Wir sind ja nicht zum Spass hier», den die «taz»-Journalistin Doris Akrap vergangene Woche zum ersten Jahrestag der Inhaftierung ihres Jugendfreunds herausgebracht hat. Über Yücels Anwälte traf sie zusammen mit dem Inhaftierten eine Auswahl der Texte, wälzte Argumente hin und her. Über seine Anwälte gab Yücel einen über 400 handgeschriebene Seiten langen Anmerkungsapparat mit, in dem alles zusammengefasst und vorweggenommen ist, was zu irgendeinem Zeitpunkt Fragen aufwerfen könnte. Die Absicht hinter der Veröffentlichung ist offensichtlich: «Es gibt nur einen Grund, Leute wie Deniz Yücel wegzusperren: Man will sie zwingen, endlich die Klappe zu halten. Damit klar ist, dass daraus nichts wird, erscheint dieses Buch», schreibt Akrap im Vorwort.

Solidarität mit den Mitgefangenen

Zwei Tage nach der Publikation wird Yücel überraschend aus der Haft entlassen und reist nach Deutschland aus. Dass er seine Klappe auch in Zukunft sicher nicht halten wird, erweist sich umgehend: Eine erste Videobotschaft nutzt der Autor nämlich vor allem dafür, an seine Kolleginnen und Kollegen zu erinnern, die sich in der Türkei weiterhin im Gefängnis befinden und für deren Freilassung sich vermutlich keine ausländische Regierung einsetzen wird – zum Beispiel die beiden Brüder Ahmet und Mehmet Altan und Nazli Ilicak, drei der renommiertesten Medienschaffenden des Landes, die am Tag von Yücels Freilassung zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt werden. Der Zynismus des türkischen Staats kennt keine Grenzen: Während eine ausländische Geisel befreit wird, demonstriert er seine ganze Macht und steckt andere unschuldig ins Gefängnis. Insgesamt sitzen in türkischen Gefängnissen über 150 Medienschaffende.

Auch jetzt, wo Yücel endlich frei ist, lohnt sich die Begegnung mit den Charakteren seiner Geschichten. Jetzt vermutlich erst recht. Cengiz beispielsweise lernt Yücel in der Haftanstalt Istanbul-Metris kennen, wo er einige Tage verbringen muss, ehe man ihn nach Silivri verlegt, ins Hochsicherheitsgefängnis für politische Gefangene. Cengiz, der ehemalige PKK-Kämpfer, kümmert sich um ihn, sorgt dafür, «dass die Neuankömmlinge Frühstück, Tee und Zeitungen bekamen». Tee und Zigaretten bekommt später auch ein krimineller Häftling im Nebentrakt, und Cengiz erhält im Gegenzug den Wellensittich, der einen gebrochenen Flügel hat und sterben würde, wenn sich niemand um ihn kümmert.

Was Yücel als Journalisten ausmacht, zeigt sich an dieser Geschichte, die ganz grosse Politik verhandelt, ohne die Leidenschaft für die Menschen zu verlieren, die von dieser Politik betroffen sind, und ohne die eigene Haltung zu verleugnen. Deshalb erzählt er, wie Cengiz in der Haft gefoltert wurde: «Und ich sah seine Augen, als er von seinen Erlebnissen berichtete. Augen, die vom Unaussprechlichen sprachen.» Er erzählt von Gesprächen, die er mit Cengiz über die PKK führt und in denen er die Organisation für ihren Anteil an den jüngsten Eskalationen kritisiert, «den Krieg in den Städten, die Terroranschläge», die Yücel «nicht nur politisch falsch, sondern auch ethisch zutiefst verwerflich» findet. In diesen Gesprächen verfalle der warmherzige und kluge Cengiz plötzlich in den Jargon eines Parteisoldaten, schreibt er.

Mit seiner Kritik an der PKK hält sich Yücel auch im Interview mit ihrem zweiten Chef, Cemil Bayik, nicht zurück, einem der Texte, die ihm den Vorwurf der «Terrorpropaganda» einbrachten. Wem dies nicht vorher schon klar war, weiss spätestens nach der Lektüre um die Willkür der einjährigen Haft. Vermutlich waren es auch Yücels Unbestechlichkeit für alle Seiten und seine Kompromisslosigkeit, die ihn ins Gefängnis brachten.

Eine Chronik der Türkei

Rund ein Drittel der Texte in «Wir sind ja nicht zum Spass hier» handelt von der Türkei – angefangen bei der unbändigen Euphorie einer ganzen Generation während der Geziproteste über das fatale Flüchtlingsabkommen mit der EU bis zum gescheiterten Militärputsch, den er als einer der ersten JournalistInnen verurteilt. «Den Putschisten mag es an vielem gemangelt haben – es fehlte ihnen jedoch nicht an der Skrupellosigkeit, um mit Kampfhubschraubern und Maschinengewehren unbewaffnete Menschen niederzumetzeln», schreibt er.

Dazwischen finden sich mehrere Reportagen aus den kurdischen Gebieten, hoffnungsvoll zuerst, in den Monaten, als es nach jahrelangem Konflikt beinahe nach Frieden aussieht, später dann immer verzweifelter. «Dieses Land riskiert, eine ganze Generation zu verspielen. Die vielleicht klügste, aufgeklärteste und fröhlichste, die es jemals hervorgebracht hat», heisst es an einer Stelle. So ist die Sammlung von Yücels Türkeigeschichten vor allem auch eine Chronik der Türkei der vergangenen Jahre, bis zu dem Zeitpunkt, als Deniz Yücel eine Istanbuler Polizeiwache betritt und für ein Jahr im Gefängnis landet, bis zu dem Zeitpunkt also, als er seiner Chronistenpflicht nicht mehr nachkommen kann.

Diese Verpflichtung beschreibt er auch in einem in der Haft entstandenen Text. «Alle, die ich hier kennengelernt habe – kurdische Aktivisten, Makler, Katasterbeamte, festgenommene Richter und Polizisten, Gangster –, alle haben mir gesagt: ‹Du musst das aufschreiben, Deniz Abi.› Ich habe gesagt: ‹Logisch, mach ich. Ist schliesslich mein Job. Wir sind ja nicht zum Spass hier.›»

Immer mit Humor

Dass Yücel nicht nur ein exzellenter Reporter, sondern auch ein scharfsinniger Kommentator des Zeitgeschehens ist, zeigen die übrigen Texte, die er früher für «Jungle World», die «taz» und später für die «Welt» geschrieben hat. Es geht darin um Journalismus («Wie schreibe ich einen Profimeinungskommentar?») und um die Irrungen engagierter Critical-Whiteness-VerfechterInnen («Liebe N-Wörter, ihr habt ’nen Knall»), um den Rassismus im deutschen Bildungssystem («Mathe für Ausländer») und die absurde Vorstellung von Berliner Hipstern, es gebe fair gehandelte Drogen («Einmal Fair-Trade-Biokoks, bitte»). Welche Bedeutung diese Texte haben, beschreibt Herausgeberin Akrap im Vorwort. Yücel beobachte und beschreibe immer präzise und genau – «nicht nur da, wo Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch jedem halbwegs Zurechnungsfähigen auffallen», sondern auch da, «wo die vermeintlich Verbündeten sitzen».

An einer Stelle im Buch zitiert Yücel den grossen türkischen Dichter Nazim Hikmet, der selbst so lange im Gefängnis sass: «Es geht nicht darum, gefangen zu sein / Sondern darum, sich nicht zu ergeben.» Ergeben hat sich Yücel, nach allem was bekannt ist, in der Haft nicht. Er wird auch in Zukunft, sobald er wieder schreibt, viele verärgern, vermeintliche Verbündete oder diejenigen, die seinen feinsinnigen Humor nie verstanden haben.

Der nun erschienene Sammelband, die Chronik von dreizehn Jahren journalistischen Schaffens, erinnert daran, was die Kraft des Wortes bewirken kann. Er erinnert auch an die weiterhin Inhaftierten, ist eine Aufforderung, sie nicht zu vergessen. Eine Aufforderung zum Handeln. Die Lektüre von Yücels alten Texten zeigt eindrücklich, was guter Journalismus kann. In zuweilen hoffnungslosen Zeiten wie diesen ist er vor allem eines: nie zynisch.

Deniz Yücel: Wir sind ja nicht zum Spass hier. Reportagen, Satiren und andere Gebrauchstexte. Edition Nautilus. Hamburg 2018. 224 Seiten. 25 Franken