Asylpolitik: Der Pakt mit der Türkei als Blaupause für die Abschottung
Seit zwei Jahren erhält die türkische Regierung Geld von der EU, um Flüchtende von Europa fernzuhalten. Welche Folgen hat der Pakt für die Schutzsuchenden? Eine Bilanz.
Am Anfang der Abmachung, die später unter dem Namen «EU-Türkei-Deal» bekannt werden sollte, stand ein Versprechen: dass es mit dem Sterben an Europas Grenzen bald vorbei sein werde. So zumindest verkaufte Gerald Knaus, Direktor einer kleinen, aber einflussreichen Denkfabrik, seine Idee. Im August 2015 publizierte Knaus ein Dokument, dessen Folgen weitreichender nicht sein konnten. Manche sagen, der Plan habe Angela Merkels Kanzlerschaft gerettet. Andere meinen sogar, er habe die Europäische Union vor dem Zusammenbruch bewahrt.
Sicher ist: Knapp zehn Seiten voller technokratischer Formulierungen genügten, um der Krise, in der sich das europäische Grenzregime im damaligen «Sommer der Migration» befand, ein Ende zu setzen.
Im März 2016 ist das Abkommen zwischen Brüssel und Ankara in Kraft getreten. Die türkische Regierung verpflichtet sich darin, Überfahrten auf die griechischen Inseln zu unterbinden und Geflüchtete, die es trotzdem übers Meer geschafft haben, wieder zurückzunehmen. Die EU hat für diese «Dienstleistung» eine fürstliche Entlöhnung zugesagt: drei Milliarden Euro für die beiden vergangenen Jahre. Für eine weitere Tranche von drei Milliarden wird bei den Mitgliedstaaten gerade Geld gesammelt. Zusätzlich verpflichtet sich die EU, für jede in die Türkei ausgeschaffte Person jemanden aus Syrien aufzunehmen.
Die EU hat Ankara ausserdem visafreie Reisen in Aussicht gestellt, eine Massnahme, die gerade weit in die Ferne gerückt ist. Am EU-Türkei-Gipfel am vergangenen Montag, an dem man schon froh sein konnte, dass die Parteien überhaupt miteinander redeten, schloss Ratspräsident Donald Tusk die Visaliberalisierung vorerst aus.
Langsame Rückschaffungen
In einem sogenannten Fortschrittsbericht verkauft die EU-Kommission den Pakt mit der Türkei als vollen Erfolg. Unterlegt ist der «Fortschritt» mit vielen Zahlen: Im Schnitt erreichen seit dem Inkrafttreten des Pakts achtzig Flüchtende pro Tag die griechischen Inseln. Vor dem Abkommen waren es manchmal mehrere Tausend – ein Rückgang um 97 Prozent.
Seit 2016 sind rund 4500 Geflüchtete von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgekehrt. Das Tempo dieser Rückschaffungen sei weiterhin «sehr langsam», schreibt die EU-Kommission. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die griechischen Behörden entgegen den Wünschen aus Brüssel in vielen Fällen auf die gestellten Asylgesuche eintreten. Rund 12 500 Geflüchtete aus Syrien wiederum sind in den vergangenen zwei Jahren aus der Türkei nach Europa umgesiedelt worden, die meisten davon hat Deutschland aufgenommen.
Die Zahlen lassen den Schluss zu: Die EU nimmt zwar mehr Geflüchtete aus der Türkei auf, als von den Inseln zurückkehren. Doch diese Zahl bleibt verschwindend klein, weil der eigentliche Zweck des Abkommens erfüllt ist: Die meisten Flüchtlinge sitzen in der Türkei fest.
Im Bericht hat die EU-Kommission zudem protokolliert, wie die bereits geflossenen 1,85 Milliarden Euro in der Türkei verwendet wurden: Eine halbe Million syrischer Kinder habe in renovierten Schulen Zugang zu Bildung gefunden, Zehntausende Menschen seien medizinisch versorgt worden. Doch es gibt auch Ausgaben, auf die die EU weniger stolz zu sein scheint und die im Bericht der Kommission fehlen. Die achtzehn Millionen Euro aus dem EU-Topf etwa, die eine niederländische Firma laut «Spiegel»-Recherchen erhalten hat, um Boote für die türkische Küstenwache herzustellen. Oder die achtzig Millionen Euro für die Lieferung von Technologie zur Grenzsicherung.
Auch ist im Bericht der EU-Kommission nicht die Rede von den mehreren Dutzend Flüchtenden, die gemäss AktivistInnenberichten zuletzt beim Versuch gestorben sind, den Hunderte Kilometer langen Grenzwall zu überqueren, den die Türkei an der Grenze zu Syrien gebaut hat.
In den vergangenen zwei Jahren haben nach Uno-Angaben fast 500 Flüchtende die Fahrt nach Griechenland nicht überlebt. Statt weniger gibt es proportional zu denjenigen, die sich überhaupt auf die Überfahrt wagten, mehr Tote. Sie sterben auf den Routen, auf die sie wegen der türkischen Kontrollen ausweichen müssen, Routen, die weiter und deshalb auch gefährlicher sind.
Die Zukunft des Grenzregimes
Der vielleicht grösste «Erfolg» des «Flüchtlingsdeals» ist derweil seine Vorbildfunktion. Mit Hochdruck wird in Brüssel derzeit an einer Reform des europäischen Asylsystems gearbeitet, bis Juni soll der Prozess abgeschlossen sein. Bei einigen der Massnahmen hat man sich das Abkommen mit der Türkei als Vorbild genommen. Sie zielen darauf ab, Flüchtende ohne Prüfung ihrer Asylgründe in ein Land ausserhalb der EU auszuschaffen.
Dazu sollen das Konzept des sogenannten sicheren Drittstaats verschärft und die bisherigen Anforderungen an einen solchen Staat gesenkt werden. Dass dieses Konzept nicht aufgeht, zeigt wiederum das Beispiel Türkei: Obwohl sich die Menschenrechtslage seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2015 dramatisch verschlechtert hat und inzwischen immer mehr Menschen aus der Türkei selbst in der EU Asyl beantragen, fand keine Neubewertung des Deals statt. Auch der türkische Angriff auf die kurdische Provinz Afrin bewegte die EU nicht zum Umdenken.
Wie das zukünftige Grenzregime aussehen wird, skizziert eine kürzlich erschienene Studie der deutschen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Europa werde «von extralegalen Pufferzonen umgeben, die gleichzeitig Teil der EU und ihr dennoch äusserlich sind», heisst es darin. «Zonen, die durch eine spezifische Regierung der Migration, durch Datenbanken, europäisierte Grenzschutzagenturen, eine Willkür des Rechts gekennzeichnet sein werden und die beständig durch das ‹Management› der Migration hergestellt werden müssen.»
Der Pakt mit der Türkei dient dabei als Blaupause für Abkommen mit Ländern wie Ägypten, Tunesien oder Marokko. Da die meisten Flüchtenden zurzeit über Libyen kommen, würde die EU auch mit dem Bürgerkriegsland gerne einen Deal abschliessen. Doch Libyen, in dem verschiedene Milizen um die Vorherrschaft ringen, lässt sich nicht so einfach zum «sicheren Drittstaat» erklären. Auch Absprachen wie mit der Türkei lassen sich nicht so leicht treffen. Also stattet die EU die aus ehemaligen Milizen bestehende libysche Küstenwache aus – auch die Schweiz hat Geld überwiesen. Von der Küstenwache abgefangene Flüchtende werden in Libyen in Lagern festgehalten, in denen es gemäss Amnesty International zu Misshandlungen, Vergewaltigungen und Sklavenhandel kommt.
Seit Gerald Knaus, der geistige Vater des «EU-Türkei-Deals», seinen Aufsatz an Europas Mächtige verschickt hat, ist der Politberater aus Österreich ein gefragter Mann. Er reist durch die Gegend, um für seine Ideen zu werben, hat schon unzählige Interviews gegeben. In einem Gespräch mit der deutschen «taz» im vergangenen Sommer sagte er etwa: «Dass man nach Libyen niemand zurückschicken kann, das versteht sich von selbst.» Den EU-PolitikerInnen wirft er inzwischen «hochmütiges Denken» vor, weil sie afrikanische Länder zwingen wollen, Geflüchtete zurückzunehmen, ohne im Gegenzug legale Wege nach Europa zu schaffen. Gerald Knaus wird die Geister, die er rief, nicht mehr los.