Editorial: Die Kraft der Worte

Nr. 18 –

  • «Langsam verliess sie die Wohnung, liess 22 Jahre zurück, ohne sich umzuschauen, denn Marta, die ihr alles bedeutet hatte, war tot.» Fotos: Florian Bachmann
  • «Vom Regen durchnässt, miaute die kleine verirrte Katze jämmerlich und glaubte schon, vor Kälte sterben zu müssen, als eine grosse Tatze sie sachte aufhob und an einen warmen, pelzigen Bauch drückte.»
  • «Zärtlich drückte der Bär das nasse Kätzchen an sein Fell, hob es behutsam hoch und biss ihm den Kopf ab.»
  • «Erst als ihm die Eingeweide herausquollen, begriff er, was geschehen war. Die warme Masse, die er verzweifelt zurück in die Bauchhöhle zu pressen versuchte, war sein Magen, in dem deutlich sichtbar die Reste des Mittagessens schwabbelten.»
  • «Zur Förderung des intuitiven Erfassens komplizierter Zusammenhänge empfiehlt es sich, die Wortzusammensetzungskomponente genau zu berechnen und von nichtrelevanten, themenumschreibungstechnischen Ausführungen wenn möglich oder zumindest fakultativ abzusehen.»
  • «Während sie die Sonne auf der Haut spürte, diese wohlige Wärme, kurz bevor sie in Hitze umschlug, in der grossen Eiche, an die sie mit geschlossenen Augen lehnte, ein Vogel sang und ihr der süsse Duft einer wilden Rose in die Nase stieg, hörte sie die geliebte Stimme, die sanft ihren Namen rief.»

Worte bewegen uns. Beim Lesen eines Romans leiden wir mit der Protagonistin, eine emotional gehaltene Rede reisst uns mit; wenn jemand mit uns schimpft, ärgert uns das, eine Liebeserklärung lässt uns errötet, beglückt oder – je nachdem, von wem sie kommt – peinlich berührt zurück. Die Reaktion auf Worte kann sehr unterschiedlich sein. Sicher ist aber: Sie lassen uns nicht kalt.

Doch wie lässt sich mit Worten Wirkung erzielen? Mit dieser Kernfrage der Rhetorik beschäftigt sich Sieglinde Geisel in einem Artikel in dieser Literaturbeilage. Stefan Howald analysiert, wie in der Politik versucht wird, mit Worten eine möglichst grosse Wirkung zu erzeugen. Warum alleine die Präsenz eines Gedichts an einem bestimmten Ort die Gemüter erhitzen kann, erklärt Raphael Urweider im Interview.

Der Berner Lyriker und Übersetzer liest an den Solothurner Literaturtagen, die vom 11. bis 13. Mai stattfinden, aus seinem neuen Lyrikband. Über siebzig AutorInnen treffen sich an dieser 40. Ausgabe, um mit ihren Worten auf das Publikum einzuwirken. Als 1978 die ersten Solothurner Literaturtage stattfanden, war auch Anna Felder dabei. Die mittlerweile achtzigjährige Autorin wird auch dieses Jahr anwesend sein – ein Porträt über sie finden Sie in dieser Beilage, sowie Besprechungen von Büchern weiterer in Solothurn anwesender AutorInnen.

Wie widerspiegeln sich die Emotionen, die Wörter und Sätze bei uns auslösen, im Gesicht? Diese Frage stand bei der Fotostrecke dieser Ausgabe im Zentrum. Der Autor Stephan Pörtner schrieb sechs Sätze für uns. Wir haben diese der Schauspielerin Sarah Sandeh vorgelesen, die zurzeit unter anderem am Theater Neumarkt in Zürich tätig ist. Was die Sätze bei ihr ausgelöst haben, sehen Sie in den sechs Fotos, die der Fotograf Florian Bachmann gemacht hat.