Literatur im Exil: Im Taxi bis ans Ende der Nacht
Zu modern für sein damaliges Umfeld in Paris: Mit «Nächtliche Wege» ist ein weiterer Roman des lange vergessenen Exilrussen Gaito Gasdanow erschienen.
Die Stadt ist Paris, und die Nacht hebt sie aus den Fugen. Hoffnungen verblassen, versinken in Dunkelheit wie Lichter am Wegrand, die flüchtig die Gesichter derer erhellen, die noch wach sind. Am Steuer sitzt ein eigenwilliger Erzähler, registriert, dass in einigen Stadtvierteln noch das Mittelalter stirbt, während in anderen das 19. Jahrhundert vergeht und das darauf folgende eher taumelt, als dass es auf sicheren Beinen ginge. Er ist oft der einzige Nüchterne unter trunkenen Gestalten, Leuten aus der Halbwelt, solchen, die herabsinken in den Wahn oder in den Stand der Clochards. Poetische Beobachtungen stehen neben Selbstbefragungen und harschen Urteilen, bevor der Blick wieder zum Kaleidoskop zurückkehrt, das die oft nur skizzierten Figuren um den Nachtchauffeur zusammenfügen.
Der oft missmutige, im nächsten Moment nachsichtige Beobachter will sich eigentlich heraushalten. Wir kennen seinen Namen nicht, zögerlich gibt er preis, dass er sein Leben etliche Male neu beginnen musste, «bedingt durch aussergewöhnliche Ereignisse, die mich, wie meine ganze Generation, überrollten». Und so zählt er auf: «Bürgerkriege und Niederlagen, Revolution, Emigration, Schiffsreisen im Laderaum oder an Deck, fremde Länder, zu rasch wechselnde Umstände, mit einem Wort, ein schroffer Gegensatz zu dem», was er sich nach alter Gewohnheit vorgestellt habe, nämlich «ein altes Haus, mit denselben Stufen vor derselben Türe, denselben Zimmern, denselben Möbeln, denselben Bücherregalen, mit Bäumen, die (…) schon vor meiner Geburt existierten und nach meinem Tod weiter wachsen würden». Das frühe 20. Jahrhundert, die Umwälzungen in Russland haben ihn herausgeschleudert aus der alten Welt. Und mit dem Heraushalten ist das so eine Sache.
Metropole statt Mystik
Gaito Gasdanows «Nächtliche Wege» sind mitreissende, autobiografisch gefärbte Streifzüge im Rhythmus seiner Fahrten durch Paris und die Welt: Gasdanow, geboren 1903 in eine ossetische Familie in St. Petersburg, 1919 Weissgardist auf einem Panzerzug, in Istanbul interniert, Abitur in Bulgarien, war 1923 nach Paris gekommen, wo bald rund 50 000 russische EmigrantInnen lebten. Er arbeitete in Fabriken, wusch Lokomotiven, landete auf der Strasse, veröffentlichte erste Prosatexte, hörte Vorlesungen an der Sorbonne, wurde schliesslich Taxifahrer. Sein erster Roman, «Ein Abend bei Claire», erschienen 1930 in einem Pariser Emigrantenverlag, machte ihn bekannt und wurde als literarisches Ereignis gefeiert. Gasdanow wurde mit Wladimir Nabokow verglichen, an seiner miserablen finanziellen Situation änderte das wenig. Anders als Nabokow trat er nie aus dem Dunstkreis russischer Exilliteratur, geriet in Vergessenheit – auch weil er, anders als sein bald weltberühmter Zeitgenosse, nie die Sprache wechselte.
Zwar fand er mit seinem Roman aus dem Blick des Taxifahrers ein zutiefst modernes Sujet, doch die russische Sprache sowie seine Verankerung im Milieu der EinwanderInnen stellten sich als Hindernisse heraus. Die schnelle Folge der Begegnungen, denen starre Stunden der Warterei gegenüberstehen, nimmt die Geschwindigkeit und Vielschichtigkeit der modernen Grossstadt auf. Die russische Emigrationsliteratur hingegen kümmerte sich um eine untergegangene Welt, pausbäckig, provinziell, bäurisch. In Paris gaben Kreise um Iwan Bunin oder Dmitri Mereschkowski den Ton an, deren Literatur die Mystik suchte, die Religion oder eben wenigstens das Ländliche – und sich dabei immer der klassischen russischen Kultur des 19. Jahrhunderts verpflichtet sah.
Gasdanow und einige jüngere, fast allesamt vergessene AutorInnen waren VertreterInnen des 20. Jahrhunderts, galten als «Russki Montparnasse», als «übersehene Generation», deren Bedeutung noch weiter schwand, als in Paris der Faschismus einzog: Wer konnte, wanderte erneut aus.
Gasdanows handlungsarmer, impressionistischer Roman hat sich mit Fragen des Existenzialismus vollgesogen, einer der Protagonisten geht an der grundsätzlichen Frage nach dem Sinn zugrunde. Der Nachtchauffeur beobachtet, urteilt, erduldet aus seiner reduzierten Sicht. Er streift ziellos durch das Milieu der EmigrantInnen, Bars und Cafés, schaut am Tag Proleten über die Schultern und danach auf Arbeiterinnen der Nacht. Er lauscht Diskussionen akademisch hochgebildeter Taxifahrer, erlebt Hierarchie und absurd organisierte Arbeitsformen der Zwischenkriegsgesellschaft in Büros und Fabriken – sogar die Clochards hatten feste, bürgerliche Prinzipien vom Recht auf Eigentum.
Immun gegen die Nostalgie
Vieles daran wirkt taufrisch und doch erschreckend schnell vergessen. Dabei ist «Nächtliche Wege», von dem erste Teile 1939/40 erschienen, eine literarische Komposition aus der Zeit nach Gasdanows bescheidenem Erfolg. Es gibt Verweise auf «Ein Abend bei Claire», auch Gasdanows scharfe Kommentare zur konservativen russischen Exilliteratur in Paris finden ein metaphorisches Kleid. An der Oberfläche aber durchmisst hier ein Nachtchauffeur die Stadt, einer, den seine Arbeit verhärtet und zu einer beinah schizophrenen Person werden lässt: Tagsüber weichherzig gegenüber Bettlern, entdeckt er, dass ihm die Geschichten derer nahegehen, die er in der Nacht abweist. Im Dunkel lernt er, sich vor Elend zu schützen, zieht sich auf seine Rolle als Beobachter zurück, immunisiert sich gegen die Immigrantennostalgie, die sich mit dem Blick auf die Misere nach etwas sehnt, das sie nie besass. Wenn man so will, raspelt die Nacht an Neugier und Mitgefühl, der Chauffeur ist tagsüber damit beschäftigt, sie wieder herzustellen.
Allein das bedeutet, immer Fremder zu sein, mag er sich kleiden wie die Arbeiter oder ihre Sprache übernehmen: «Im nächtlichen Paris fühlte ich mich wie ein Reisender, der in ein fremdes Element geraten war; in der ganzen Riesenstadt gab es zwei oder drei Orte, die erleuchteten Inseln im dunklen Raum glichen – dorthin fuhr ich jede Nacht, etwa um dieselbe Zeit; und wenn ich in mein Café ging, kam ich mir vor wie ein Ruderer in einem kleinen Boot, der nach langem Schaukeln auf den Wellen endlich an einem kleinen Pier anlegt – und ich stieg aus und sah statt Meer und Hafenkneipe das beleuchtete Trottoir und die beschlagenen Fenster des Cafés dem schlafenden Bahnhof gegenüber und die von den Bremsen arretierten Räder meines Autos.»
Der Grundton des Bedauerns
Aus der vielfach gebrochenen Perspektive des russischen Einwanderers, des Aussenseiters und Chauffeurs blickt Gasdanows Beobachter auf eine Welt, die aus den Fugen ist – auf seine Weise einsam, wie alle anderen auf ihre: unmöglich, die Verhältnisse zu verstehen, sich ihnen mit genügend Geduld zu widmen, letztlich in ihnen heimisch zu werden. Heraus kommt ein unbefriedigender, widersprüchlicher Umgang mit der Welt, oberflächlich und abweisend, wo er zugewandt und zärtlich sein will. Deshalb zieht sich tiefes Bedauern durch die elegante Prosa und die wunderbaren Nachtfahrten: «Das Bedauern, das ich im Bewusstsein dieser Unmöglichkeit verspürte, zog sich durch mein ganzes Leben.»
Gaito Gasdanow: Nächtliche Wege. Roman. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Christiane Körner. Carl Hanser Verlag. München 2018. 288 Seiten. 36 Franken