Die Schweiz in der Welt: Switzerland first!
In der Schweizer Aussenpolitik verlieren ethische Grundsätze gegenüber geschäftlichen Eigeninteressen immer mehr an Gewicht – womit das Land einem globalen Trend folgt. Was tun?
Justizministerin Simonetta Sommaruga war letzte Woche an einem EU-Treffen in Innsbruck, wo sie der Idee von «Ausschiffungsplattformen» widersprach, für die vor allem ultrarechte Politiker wie der italienische Innenminister Matteo Salvini warben. So weit, so gut. Konkret geht es um exterritoriale Lager in Afrika, in die aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge zurückgebracht werden sollen.
Irritierend ist, mit welchem Argument Sommaruga widersprach. Sie kritisierte nicht, dass die Lager die Menschenrechte ritzten, die Flüchtlingen ein Asylverfahren in Europa zusichern. Sie gab lediglich zu bedenken, dass die Lager nicht umsetzbar seien, weil kein afrikanisches Land Hand dafür bieten würde.
Die Episode zeigt symbolisch, wie die Schweiz in der Welt zunehmend agiert. Man muss die Vergangenheit nicht verklären: Die Schweiz war nie der Leuchtturm des Humanismus, als den sie sich gerne sieht. Sie hat sich oft hinter der Neutralität versteckt, um mit allen Seiten handeln zu können – von den Bankgeschäften mit Nazideutschland über die industriellen Beziehungen mit dem südafrikanischen Apartheidsystem bis hin zu heutigen Rohstoffdeals mit korrupten Regierungen. Als Hüterin der Genfer Konventionen und Gastgeberland des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz hat die Schweiz jedoch gleichzeitig immer auch einen humanitären Beitrag für die Welt geleistet, eine Tradition, die auch vom 2017 zurückgetretenen Aussenminister Didier Burkhalter weiter vorangetrieben worden war.
Autoritäre Flirts
Die Schweiz scheint jedoch zunehmend auf ihren Einsatz für humanitäre Werte zu verzichten. Sie beschränkt sich zusehends auf die Verfolgung von (geschäftlichen) Eigeninteressen. Switzerland first. Der krasseste jüngste Einschnitt ist der Entscheid des Bundesrats, den Export von Schweizer Waffen in Bürgerkriegsländer zu erlauben. Ermöglicht hat diesen Entscheid – den die Waffenindustrie schon lange forderte – Aussenminister Ignazio Cassis, der sich anders als sein Vorgänger Burkhalter den anderen rechten Männern im Bundesrat anschloss. Die Schweiz positioniert sich aber auch grundsätzlich geopolitisch neu: Das Interesse, Teil einer europäischen Wertegemeinschaft zu sein, ist unter der dreissigjährigen Hetzkampagne der SVP einer offenen Feindseligkeit gegenüber der EU gewichen. Das Einzige, was einen an der EU noch interessiert, ist, Geschäfte mit ihr zu treiben.
Gleichzeitig umarmt die Schweiz das autoritäre China, dessen Staatspräsident Xi Jinping der Bundesrat letztes Jahr in Bern empfing, während die JournalistInnen aussen vor bleiben mussten und die Polizei Jagd auf friedliche TibetaktivistInnen machte. Schweizer KonzernchefInnen wie die SVPlerin Magdalena Martullo-Blocher, die den Präsidenten und seine Delegation zum Cüpli treffen konnten, hoffen auf gute Geschäfte mit der aufstrebenden Wirtschaftsmacht. Kürzlich hat EU-Hasserin Martullo-Blocher zudem gefordert, ein Freihandelsabkommen mit Donald Trumps Regierung zu prüfen. Business first.
Mit Cassis zeichnet sich auch eine Wende in der Entwicklungszusammenarbeit ab, die er verstärkt im (angeblich) nationalen Interesse betreiben will, wie er kürzlich in einer verwaltungsinternen Rede festhielt. Entsprechend schneidet er auch die Schweizer NGOs. Sein Vorgänger Burkhalter hatte vor seinem Rücktritt einen Prozess initiiert, in dem die NGOs bei der Evaluierung der Ziele mithelfen sollten, zu denen sich die Schweiz im Rahmen der Uno-Agenda 2030 bekannt hatte. Dabei geht es etwa um die Bekämpfung von Armut, um Gesundheit oder Gleichstellung. Im Juni stoppte Cassis den Bericht und liess von der Verwaltung einen neuen, unkritischen Bericht verfassen, der diese Woche in New York vorgestellt wurde. Der entwicklungspolitische Thinktank Alliance Sud, den Burkhalter regelmässig zum Austausch traf, musste zudem ein ganzes Jahr auf ein Treffen mit Cassis warten, das nun im Herbst stattfinden soll.
Die Wiederholung normalisiert
Es wäre verkürzt, diesen Trend der Schweizer Aussenpolitik allein dem neuen Aussenminister zuzuschreiben. Cassis steht vielmehr für eine allgemeine internationale Entwicklung: Die Welt verabschiedet sich allmählich von der westlichen liberalen Nachkriegsordnung, die auf ein Minimum an Kooperation, internationalem Recht und Menschenrechten setzte – hin zu einer Welt der rivalisierenden Grossmächte, in denen autoritäre, nostalgische Männer die angeblichen Interessen ihrer Nationen mit dem Vorschlaghammer durchzusetzen versuchen.
Sicher, die schwindende liberale Nachkriegsordnung ist teilweise mehr Schein als Sein: eine dünne zivilisatorische Schicht, die die nötige Stabilität garantiert, um in Ruhe Geschäfte betreiben zu können – und mit der sich der Westen seiner moralischen Überlegenheit versichert. Doch sie ist eben mehr als das. Neben der Tatsache, dass sie das Leben vieler Menschen verbessert hat, ist diese liberale Werteordnung aus einem weiteren Grund zentral: Sie setzte ethische Normen, anhand derer Missstände überhaupt als Missstände angeprangert werden können.
Indem die ethischen Argumente in der internationalen Politik allmählich verschwinden, wird es zunehmend wirkungsloser, sich auf sie zu berufen: Man mag glauben, dass jeder vernunftbegabte Mensch einsehen muss, wie verwerflich es ist, wenn eines der reichsten Länder der Welt Waffen in Länder wie Saudi-Arabien exportiert. Doch offensichtlich reicht dieser Einwand nicht mehr aus, um Geschäftsinteressen zu widerstehen. Und selbst wenn sich Justizministerin Sommaruga am EU-Treffen in Innsbruck mit dem Argument der Menschenrechte gegen «Ausschiffungsplattformen» gestellt hätte: Dieses würde kaum mehr gehört.
Hier liegt auch der Grund, warum die alte Strategie, Missstände anzuprangern, immer weniger zieht: Man appelliert damit an vermeintlich allgemeingültige Normen, die jedoch immer weniger gelten. Man riskiert gar, die Missstände zur neuen Norm zu machen – und damit das politische Koordinatensystem nach rechts zu verschieben. Der Komiker Sacha Baron Cohen hat für die erste Folge seiner neuen TV-Serie US-RepublikanerInnen dazu verleitet, sich für die Bewaffnung von Kleinkindern an Schulen einzusetzen (vgl. «Schulkinder bewaffnen? Super Idee!» ). Er hofft, dass damit auch der Hinterletzte einsehen wird, wie sehr das jeder Vernunft widerspricht. Am Ende trägt er damit jedoch eher dazu bei, dass die Bewaffnung von LehrerInnen als moderat und vernünftig erscheint. So wirken auch all die verächtlichen Tweets frustrierter Männer über ertrinkende Flüchtlinge, die empört weiterverbreitet werden. Die Wiederholung macht alles zur Normalität.
Alles andere ist naiv
Neben dem Anklagen des Schlechten braucht es deshalb vermehrt den Einsatz für das Gute – das unermüdliche Einstehen für Menschenrechte oder für Initiativen wie jene zugunsten der Konzernverantwortung, die die Schweizer Firmen im Ausland zum ethischen Handeln zwingen will und in der Bevölkerung so viel Unterstützung geniesst, dass sich die rechte Parlamentsmehrheit zu einem Gegenvorschlag gezwungen sieht. Dass diese Zeilen schon fast naiv tönen, ist lediglich ein weiterer Beleg dafür, wie die Geschäftsinteressen die «humanitäre Schweiz» langsam verdrängen.
Doch selbst wer kein anderes Argument als die eigenen Interessen kennt, sollte sich für Werte einsetzen. In einer Welt, die im Chaos versinkt und in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt, wird die kleine Schweiz untergehen. Zumindest das scheint auch Cassis einzusehen, der vor dem Uno-Menschenrechtsrat die Wichtigkeit «einer starken und funktionierenden internationalen Ordnung» unterstrich, «um die Interessen der Schweizer und Schweizerinnen zu wahren».