Schlieren im Zeitraffer: Plötzlich diese Anlieferung
Im Dezember 2011 wurde auf einer Baustelle in der Zürcher Vorortsgemeinde Schlieren ein grauschwarzes Stück Baumstamm gefunden, das alt aussah. Eine Radiokarbonanalyse der ETH Zürich ergab, dass es sich dabei um eine sogenannte Schottereiche handelte, die zwischen 8610 und 8535 vor Christi Geburt gewachsen war, also vor mehr als 10 000 Jahren. Ihre Jahrringe geben Aufschluss über das Klima zu Lebzeiten des Baumes. Aber wie mag das heute dicht besiedelte Limmattal damals, kurz nach der letzten Eiszeit Mitteleuropas, ausgesehen haben?
Jahrringe und Vorstellungswelten einer etwas anderen Art setzt ein Langzeitfotoprojekt frei, das beim Fund der alten Eiche bereits seit sechs Jahren am Laufen war. Unter der Leitung von Ulrich Görlich und Meret Wandeler von der Zürcher Hochschule der Künste wird seit 2005 und voraussichtlich noch bis 2020 an 63 Schlieremer Standorten alle zwei Jahre eine Fotografie gemacht: immer zwischen Juni und September vom exakt selben Standpunkt auf öffentlichem Grund aus. Ausserdem wird darauf geachtet, dass keine Menschen zu sehen sind, die vom eigentlichen Sujet, dem bebauten oder brach liegenden vorstädtischen Raum, ablenken könnten. Die neuste Ergänzung von 2017 wurde kürzlich auf die Website geladen.
Die Bilderreihen sind von einer hohen technischen Perfektion, aber auch von einer derart knochentrockenen Sachlichkeit, dass sie ihre gut gehütete Faszination erst nach und nach entfalten können. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man von einem Zeitraffer, auch wenn er im gemütlichen Zweijahresrhythmus getaktet ist, automatisch erwartet, dass dramatische Veränderungen eingefangen werden. Gewisse Bauzonen Schlierens stillen diese Erwartung durchaus. Auf dem einstigen Acker wächst ein Glaspalast; anderswo schiessen Mehrfamilienhäuser in die Höhe, die ausschauen wie farbige Legoklötzchen, sodass man meint, in einem Architektursimulator zu sitzen.
Doch an manchen Ecken von Schlieren scheint tatsächlich die Zeit stillzustehen – etwa beim Bauernhof am Waldrand, wo der Bau eines zweiten Stalls sowie die Anschaffung des einen und später noch eines zweiten Siloturms die einzige sichtbare Veränderung ausmachen. Auch mittendrin in manchem Wohn- und Industriequartier verändert sich erstaunlich wenig.
Eine Fassadenrenovierung mit etwas mehr Farbe oder ein neuer Balkon sind oft die einzigen Zeichen, dass auch hier die Jahre verstreichen. Fotoreihen dieser eher statischen Art werden zu Suchbildern, auf denen man kleinste Spuren eines Wandels aufzuspüren versucht. Manchmal hat man allerdings auch plötzlich einen Pfosten, eine Anlieferung oder einen Bauzaun vor der Nase: Einige der baulichen Veränderungen ziehen ihre Schneisen mitten durch die Bilder selbst – und lassen das sachliche Dokumentationsprojekt aussehen wie fotografierte Land-Art.
Die Attraktivität dieses Langzeitbeobachtungsprojekts für Stadtentwicklerinnen und Agglomerationsforscher ist offensichtlich. Wer dagegen ohne wissenschaftliche Absicht an die Fotografien herangeht, kann inmitten des ungerührt präsentierten rasenden Wandels und verwunschenen Stillstands rasch ins Grübeln geraten.
Was die Fotoreihen abseits von luftigen Gedankenwolken zu geraffter Zeit und menschlichen Hinterlassenschaften aber vor allem bewirken: Sie erden mit ihrer schlichten Konkretheit Zerrbilder von Schlieren, die nach wie vor durch viele Schweizer Köpfe geistern und hin und her pendeln zwischen dem nostalgischen Idyll von «d Schlieremer Chind gönd in Zoo» und der harschen medialen Wahrnehmung von Schlieren als «Abfallkübel des Kantons», wie der «Tages-Anzeiger» einst schrieb. Kaum eine andere Abbildungsform wäre vorstellbar, die einem wuchernden Wohn- und Industrieraum einen derart pragmatischen Spiegel vorhält. Da kann höchstens noch das Statistische Amt mithalten.
Beim Betrachten der Fotos wandern die Gedanken irgendwann wie von selbst zurück in die Geschichte: zu Schlieren als kaum bewohnte Flusslandschaft, dann als Bauerndorf. Jahrhundertelang. Bis plötzlich sehr schnell sehr viel passierte. 1847 ging die Spanisch-Brötli-Bahn in Betrieb, mit Haltestelle in Schlieren. 1889 bewilligte die Gemeindeversammlung eine Stromleitung, 1890 wurde die Limmatkorrektur abgeschlossen. Da war die Industrie mit der stinkenden Leimfabrik Geistlich bereits in Schlieren angekommen. Es folgten das städtische Gaswerk, die Wagons- und Aufzügefabrik Schlieren und weitere Firmen, die am Ende des 20. Jahrhunderts bereits wieder verschwunden waren. Heute ist das Städtchen ein Hub für Biotechnologiebetriebe, DrohnenpilotInnen und Elektromobilschauen. Zumindest in Spurenelementen fängt das fotografische Langzeitprojekt auch das ein, was lange vor dem gesteckten Zeitrahmen prägend war. Um sich allerdings den wilden Eichenwald auf der einstigen Gletscherzunge zurückzuträumen, muss man kurz die Augen schliessen.
Fotografische Langzeitbeobachtung Schlieren 2005–2020. Ein Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule der Künste / Institute for Contemporary Art Research (IFCAR). Projektleitung: Ulrich Görlich, Meret Wandeler.
Aufnahmen 2005: Ulrich Görlich / Meret Wandeler; Re-Photography 2007: Elmar Mauch; 2009–2017: Christian Schwager. Partner: Stadt Schlieren, Metron AG, Staatsarchiv des Kantons Zürich.