«Die Wurzeln des Lebens»: Alles geht vergoldet zugrunde

Nr. 43 –

Utopie oder Dystopie? Der neue Roman von Richard Powers ist eine Ode an die Weisheit der Bäume – und ein Abgesang auf die Menschheit.

Über Bäume zu sprechen, sei fast ein Verbrechen, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesse, schrieb Bertolt Brecht 1938, zur Zeit des Nationalsozialismus, im dänischen Exil. Inzwischen haben wir längst erkannt, dass die menschlichen Untaten sich nicht auf die eigene Spezies beschränken, sondern alles Leben auf unserem Planeten zu zerstören drohen. Und dass wir auch über Bäume sprechen müssen.

Richard Powers geht in seinem neuen 600-Seiten-Roman «Die Wurzeln des Lebens» noch einen Schritt weiter. Er fordert, dass wir nicht bloss über Bäume sprechen, sondern mit ihnen. Wir sollten reden mit den Mammutbäumen und dem Ahorn, mit den Fichten und Linden, mit dem Maulbeergewächs und der glattrindigen Buche. Und wir sollten den Bäumen vor allem zuhören, endlich wahrnehmen, wer sie sind und was sie leisten, sie als gleichberechtigte, wenn nicht gar überlegene Lebewesen annehmen. Der US-amerikanische Autor will nichts weniger als die Menschen in der Welt neu verorten. Ein unbescheidenes Vorhaben, dem der englische Originaltitel, «The Overstory», eher gerecht wird als die psychologisch-religiös vorbelastete deutsche Allerweltsphrase «Die Wurzeln des Lebens». Denn «overstory» ist nicht nur die botanisch korrekte Bezeichnung für das schützende Kronendach eines Waldes; im übertragenen Sinn meint «overstory» auch die übergeordnete grosse Geschichte, das sinnstiftende Ganze.

Weitverzweigte Wurzeln

Powers’ Roman ist wie damals der Baum im Biologiebuch aufgeteilt in Wurzeln, Stamm, Krone und Samen. Im Wurzelteil werden die neun Hauptfiguren und ihre langen Familiengeschichten vorgestellt: Der Künstler Nick Hoel, ein Nachfahre irischer EinwanderInnen, einer Bauernfamilie, die ihre Hoffnung ausgerechnet in die Amerikanische Kastanie setzt, einen Baum, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine aus Asien eingeschleppte Krankheit hingerafft wurde. Mimi Ma, Tochter eines reichen Chinesen, der wegen Mao in die USA geflohen ist und dessen Seidenraupenbaum in der neuen Welt nicht Fuss fassen will. Der sozial gehemmte Adam Appich, in eine dysfunktionale Familie hineingeboren, die jedem Kind seinen eigenen Baum pflanzt, um den sie sich in der Folge kaum mehr kümmert. Ray Brinkman und Dorothy Cazaly, die sich bei einer Laienaufführung von «Lady Macbeth» kennenlernen und später beschliessen, an jedem Hochzeitstag einen Baum in ihren Garten zu pflanzen. Douglas Pavlicek, der Vietnampilot, der beim Absturz von einem alten Feigenbaum aufgefangen und gerettet wurde und zurück in den USA Tausende von neuen Bäumen pflanzt. Neelay Mehta, der junge Amerikaner indischer Herkunft, der von einer Eiche fällt, vollinvalid wird, sich ganz in die parallele Digitalwelt versenkt und dort neue, immer naturnähere Welten schafft. Die sprach- und hörbehinderte Naturwissenschaftlerin Patricia Westerford, deren Entdeckung, dass auch Bäume sozial sind und Gemeinschaftssinn haben, dazu führt, dass sie von der Forschungsgemeinschaft ausgestossen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Und schliesslich Olivia Vandergriff, eine junge zugedröhnte Studentin, die sich beim Masturbieren aus Versehen beinahe durch einen Stromschlag tötet.

Diese literarischen Wurzeln sind wie die natürliche Vorlage gross und weitverzweigt, oft unübersichtlich und bizarr verästelt. Noch ist nicht klar, was einmal daraus werden soll. Doch die Sprachkraft von Richard Powers verbindet die vielen Geschichten zu einem eindrücklichen Geflecht.

Auf verschlungenen Wegen entdecken schliesslich alle ProtagonistInnen ihre Seelenverwandtschaft mit dem Wald und den Bäumen. Nach körperlichen und seelischen Verletzungen und Erschütterungen suchen sie ihr Heil in der Natur, in einem grösseren Ganzen. Im Zentrum des Stammkapitels stehen Olivia und Nick. Mehr als ein Jahr lang lebt das junge Paar hoch oben in einer Sequoia sempervirens, um den Küstenmammutbaum mit der Besetzung vor den Holzfällern zu schützen – eine romantische Liebesgeschichte zwischen Menschen und Bäumen, die eigentlich nur tragisch enden kann.

Stamm oder rottender Strunk?

Die direkte Konfrontation der radikalen UmweltaktivistInnen mit profitgierigen Konzernen und gewaltbereiten Ordnungskräften spitzt sich an der kalifornischen Küste zu einem eigentlichen Ökokrieg zu. Die AktivistInnen versuchen nach brutalen Polizeieinsätzen schliesslich, gewisse Waldbestände durch gezielte Brandanschläge auf Holzfällermaschinen und -baracken zu retten – und bringen dabei versehentlich eine der ihren um. Was über 240 Seiten hin zum tragfähigen Stamm einer Ökobewegung hätte wachsen können, ist bereits ein rottender Strunk. Immerhin Materie, die Nahrung für zukünftige Samen bietet.

In den letzten beiden Romanteilen erzählt Powers die Lebensgeschichten der neun Figuren weiter, die alle durch ihre Begegnung mit Bäumen geprägt und radikal verändert worden sind. Vier der Hauptfiguren sterben oder sind ihrem Lebensende nah, zwei sitzen wegen der Brandanschläge im Knast, und die drei übrigen bewegen sich immer weiter weg vom gesellschaftlichen Mainstream und hin zu einer Randständigkeit, die gemeinhin der Natur zugeschrieben wird. Ein prächtiges Kronendach ist – zumindest nach menschlichem Ermessen – also nicht gewachsen aus diesen neun Leben. Neue Blätter oder gar Samen für eine bessere Zukunft sind klein und rar.

Lässt Richard Powers’ grosse Geschichte noch Hoffnung zu? Ist die «Overstory» eher Utopie oder Dystopie? Das kommt auf den Blickwinkel – Mensch oder Baum – an. Der Autor spinnt so etwas wie eine grüne Verelendungstheorie. Er traut der Menschheit, die in der Evolution sehr spät dazugekommen ist, sich aber schnell die ganze Erde untertan gemacht hat, nicht (mehr) viel zu. Alles werde vergoldet zugrunde gehen, sagt der weitsichtige Neelay einmal. Ein solches Pauschalurteil macht fatalistisch und apolitisch: Was sollen wir mühsam für griffigere Umweltgesetze, Biolandbau, erneuerbare Energien oder gar ein gerechteres Wirtschaftssystem kämpfen, wenn der «Weltenbaum» ohnehin bereits wankt? Auf der anderen Seite setzt Powers auf die unermessliche Erneuerungskraft der Natur und insbesondere auf den starken Gemeinschaftssinn der Bäume: Es gebe durchaus eine Zukunft, wenn die Menschen ganz verschwinden oder wenn sie es schaffen, Teil des Kronendachs zu werden, ein Baum unter Bäumen. Das ist für ein so eigenwilliges Buch eine erstaunlich konventionelle Aussage: Wie so oft in den USA tritt an die Stelle von Kämpfen und Kompromissen einmal mehr die grosse Heilserwartung, auch wenn diesmal die Rolle des Messias nicht mehr den Menschen, sondern den Bäumen zugeschrieben wird.

In «Samen», dem letzten Buchteil, lässt der Autor den zu zweimal lebenslänglich verurteilten Psychologen Adam in seiner engen Zelle sinnieren: «Natürlich ist es nicht die Welt, die Rettung braucht. Nur das, was die Menschen so nennen.» Es ist eine Stärke und zugleich die zwingende Schwäche von «Overstory», dass das, was die Menschen Welt nennen, trotz aller Liebe zu den Bäumen letztlich doch im Zentrum der Geschichte bleibt. Weil wir gar nicht anders können.

Der Autor liest am Montag, 5. November, um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allie. S. Fischer Verlag. Frankfurt 2018. 618 Seiten. 40 Franken