25 Jahre zapatistischer Aufstand: Die Botschaft als Tat
Als kleine Guerilla haben die ZapatistInnen von Chiapas einst linke Bewegungen auf der ganzen Welt beeinflusst. Heute konzentrieren sie sich auf sich selbst.
Die Nacht zum 1. Januar 1994 zeigte wie kaum je eine andere die Gegensätze Mexikos. In der Hauptstadt Mexiko-Stadt prostete der Multimillionär und Präsident Carlos Salinas de Gortari anderen MultimillionärInnen zu. Sie feierten das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta), das an jenem Tag in Kraft trat und das Land vollends dem ungezügelten globalen Kapitalismus auslieferte. In derselben Nacht kamen in Chiapas, dem südlichsten und ärmsten Bundesstaat, maskierte Guerilleros aus den Tiefen des lakandonischen Urwalds und nahmen im Handstreich die Stadt San Cristóbal de las Casas und sechs weitere Provinzstädte ein. Der zapatistische Aufstand hatte begonnen.
25 Jahre später regiert noch immer der Neoliberalismus in Mexiko. Die Marktöffnung hat im Zentrum und im Süden des Landes die Existenz von Hunderttausenden KleinbäuerInnen vernichtet; ihr Mais konnte mit dem industriell produzierten und subventionierten Importmais aus den USA nicht konkurrieren. Dafür entstanden im Norden riesige zollfreie Produktionszonen für die Billiglohnfabriken der Textil-, Elektro- und Elektronikindustrie. Sie wuchsen so schnell und unkontrolliert, dass um sie herum eine soziale Wüste entstand. Die EinwohnerInnenzahl von Ciudad Juárez etwa hat sich in diesen 25 Jahren mehr als verdoppelt. Die seither mehreren Hundert Morde an Frauen wurden zum weltweit bekannten Mahnmal der Folgen eines Raubtierkapitalismus, der Menschen als ausbeutbare Masse ohne jegliche soziale Infrastruktur in solchen Umgebungen ansiedelt.
Der Mann mit der Sturmhaube
Die ZapatistInnen sind heute so gut wie vergessen. Die weit über 100 000 Toten des seit zwölf Jahren wütenden sogenannten Krieges gegen die Drogen haben die RebellInnen aus den Nachrichten verdrängt. Sie haben die Waffen schon 2005 niedergelegt. Angesichts der überbordenden kriminellen Gewalt habe revolutionäre Gewalt in Mexiko derzeit keinen Sinn, hiess es in einer Erklärung von 2017. Aber es gibt sie noch: In den Tiefen des lakandonischen Urwalds existieren noch immer 27 zapatistische Dörfer, zusammengefasst in fünf sogenannten Caracoles (Schnecken – die Spiralform spielt in der Mythologie der Maya eine Rolle) und von den BewohnerInnen selbst verwaltet. Ihr Anspruch war einmal viel grösser gewesen.
Die Figur des heldenhaften Guerilleros war 1994 schon fast aus der Zeit gefallen. Che Guevara war seit bald dreissig Jahren tot, Kuba steckte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in einer tiefen Wirtschaftskrise. In Nicaragua waren die SandinistInnen vier Jahre zuvor abgewählt worden, in El Salvador hatte die FMLN zwei Jahre zuvor einen Friedensvertrag unterzeichnet, mit dem zwar der Bürgerkrieg beendet, aber keine ihrer revolutionären Forderungen durchgesetzt worden war. Und da tauchte aus dem Urwald plötzlich eine neue charismatische Gestalt auf: Subcomandante Marcos, der Mann hinter der über den Kopf gezogenen schwarzen Sturmhaube. Im Sehschlitz sah man nur seine grünen Augen, im Mundloch steckte seine Pfeife. Wie der mexikanische Revolutionär Emiliano Zapata trug er oft gekreuzte Patronengurte vor der Brust, ritt wie dieser gerne auf einem Schimmel. Die Guerilla nannte sich entsprechend Zapatistisches Heer der nationalen Befreiung (EZLN).
Dass Zapata kein Ureinwohner war, spielte genauso wenig eine Rolle wie die Tatsache, dass der Gründer und jetzige Subcomandante als Weisser unter dem Namen Rafael Sebastián Guillén in Tapico im Norden von Mexiko zur Welt gekommen war und Philosophie studiert hatte. Er war ein Überlebender der 1968 von Sicherheitskräften brutal niedergeschlagenen mexikanischen StudentInnenbewegung, der sich zusammen mit ein paar Verbündeten unter den Maya im Urwald im Süden eine neue Basis gesucht hatte. Trotzdem galt das EZLN als Indígena-Guerilla. Die Ikonografie ihres Sprechers jedoch war eher eine Mischung aus Che, Black Panthers und Zapata.
Auch sein Diskurs war synkretistisch: Die Reden und Schriften des lange anonym gebliebenen Subcomandante vermengten klassische Kapitalismuskritik mit an Platon erinnernden Dialogen und mythischen Maya-Erzählungen. Das war neu, so ganz anders als die orthodoxen Parolen anderer lateinamerikanischer Guerillas. Als wäre der Che («Seid realistisch, fordert das Unmögliche») wieder auferstanden. Zuerst sagte Marcos: «¡Basta!» – Es reicht! Dann wollte er mit seinem Heer nach Mexiko-Stadt ziehen, um die Regierung zu stürzen. 1996 luden die ZapatistInnen zum «Ersten internationalen Treffen für die Menschheit und gegen den Neoliberalismus» nach Aguascalientes, das Nachfolgetreffen ein Jahr später in Spanien hiess dann schon «intergalaktisch». Ein bisschen Grössenwahn gehörte dazu. Aber der Diskurs war neu, irgendwie geheimnisvoll und jedenfalls massentauglich und erfolgreich. Marcos selbst hat 2013 zugegeben, dass seine Figur für die Massenmedien erfunden wurde. Militärisch aber war das EZLN nie eine Gefahr für den Staat. Aus den sieben Städten, die sie am 1. Januar 1994 in einem Überraschungscoup eingenommen hatte, war die schlecht bewaffnete und militärisch kaum vorbereitete Guerilla nach wenigen Tagen vertrieben.
Autonomie und Folklore
Der Grössenwahn ist längst verflogen. Die BewohnerInnen der zapatistischen Dörfer konzentrieren sich heute auf ihre eigenen Belange, auf ihr von ihnen selbst bestimmtes kollektives Entwicklungsmodell. Wenn sie vor UnterstützerInnen, die sie besuchen, noch immer mit übergezogener Sturmhaube Tänze aufführen, wirkt das schon fast folkloristisch. Ihre Regeln sind, wie früher ihr Diskurs, synkretistisch. So widerspricht das absolute Alkohol- und Drogenverbot in ihrem Gebiet allen bekannten Traditionen der Maya. Es dürfte, genauso wie die strikte Sozialkontrolle, von den in dieser Gegend starken evangelikalen Kleinkirchen beeinflusst sein.
Ihr Beitrag zur Weiterentwicklung linker Bewegungen aber ist unumstritten. Die ZapatistInnen haben es nicht nur geschafft, die Unterdrückung und Diskriminierung der lateinamerikanischen Urbevölkerung für ein paar Jahre international zum Thema zu machen. Sie haben auch eine neue und frische Kritik des globalen neoliberalen Kapitalismus in die Debatte geworfen, lange vor Attac und Occupy. Und sie waren – noch vor der flächendeckenden Ausbreitung des Internets – gewissermassen so etwas wie die erste Cyberguerilla. Denn ihre Botschaft war stets wichtiger als die Tat.
Dass in Mexiko seit dem vergangenen 1. Dezember zum ersten Mal seit siebzig Jahren wieder ein linker Präsident regiert, damit haben die ZapatistInnen nichts zu tun. Sie haben nicht Andrés Manuel López Obrador unterstützt, sondern die indigene María de Jesús Patricio, die dann nicht genügend Unterschriften sammeln konnte, um als Kandidatin registriert zu werden.
In seinem Wahlkampf hat López Obrador Forderungen der ZapatistInnen aufgegriffen: Es dürfe keine Politik ohne Indígenas mehr geben, hat er oft gesagt. Auch seine Kritik des Neoliberalismus ist von der des Subcomandante Marcos nicht weit entfernt. Er hat mit dieser Botschaft die Präsidentschaftswahl haushoch gewonnen. Was noch aussteht, ist die Tat.