WOZ Nr. 8/94 ( 25. Februar 1994)
Die Zapatistas haben einen genialen Sprecher: Der Che der neunziger Jahre?: Marcos Superstar
Marcos, der Mann mit der Roger-Staub-Mütze und den flotten Sprüchen, ist zur Zeit der Politstar Nummer eins in Mexiko. Mit seinen frisch wirkenden, witzigen, manchmal poetischen Texten, die er den Medien zukommen lässt, hat der Subcomandante und Sprecher der Guerillaorganisation EZLN die Sympathie der mexikanischen Öffentlichkeit für die indianischen Zapatistas erobert. Er denke, die Leute hätten gelegentlich «die Schnauze voll vom ‹Sub›», sagt er. Doch dem ist nicht so.
Neue Helden braucht das Land: Zapata ist tot - es lebe Marcos. Oder auch: Marcos for president. Die revolutionäre Machtfrage im Mexiko der neunziger Jahre entscheidet sich schliesslich nicht mehr wie noch Anfang dieses Jahrhunderts über die Gewehrläufe, sondern über ordentlich ausgefüllte Wahlzettel. Damit diese dann allerdings auch ordentlich ausgezählt werden, kann das eine oder andere Maschinengewehr durchaus ein wenig nachhelfen. Dies scheint zumindest eine der Lektionen aus dem chiapanekischen «Volkskrieg» zu sein. Auch wenn der maskierte «Superman» aus dem lakandonischen Regenwald sicher keinerlei präsidentiale Ambition hegt: Chancen hätte die neue Traumgestalt Marcos in der aktuellen mexikanischen Politiklandschaft allemal.
Zwei neuartige Epidemien grassieren derzeit in der mexikanischen Republik und versetzen die institutionalisierten Revolutionäre der Regierungspartei PRI in Angst und Schrecken: Während Bauern- und Indianerorganisationen im ganzen Land vom zapatistischen Fieber infiziert scheinen und ihren Regierungen so selbstbewusst wie schon seit achtzig Jahren nicht mehr entgegentreten, sind es vor allem die intellektuellen StädterInnen, die das Marcos-Fieber erhitzt. Denn die Bewunderung für den Todesmut der indianischen RebellInnen, die aus einer passiven Elendsstatistik und der vergangenheitsorientierten Forschung über Glanz und Gloria untergegangener Indiokulturen plötzlich als Akteure in die moderne mexikanische Wirklichkeit getreten sind, ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit der Begeisterung für den schon jetzt legendären Subcomandante Marcos.
Der Subcomandante erscheint als moderner mexikanischer Che, ein Intellektueller, der sein sprachliches Rüstzeug auf dem Weg in den Urwald nicht hinter sich gelassen hat, sondern es - und sich - bewusst in den Dienst seiner indianischen Comandantes stellt.
Selbst Carlos Fuentes zeigte sich beeindruckt vom Specher der «ersten postkommunistischen Revolte», der «offensichtlich mehr Carlos Monsiváis als Karl Marx gelesen» habe, wie er in einem Zeitungsinterview in Anspielung auf den Schriftsteller und allseits respektierten politischen Analytiker Monsiváis sagte. Marcos vermeide es sorgsam, die Ziele der Zapatistas in Begriffen wie Sozialismus zu umschreiben; von «maoistischen Strategien» grenze er die Zapatistische Befreiungsarmee (EZLN) explizit ab und weise darauf hin, dass «der bewaffnete Kampf keinesfalls als Avantgarde» zu verstehen sei, sondern vielmehr als «Teil eines viel breiteren und vielschichtigen Prozesses» im Land. «Es ist nicht mehr die schwere, dogmatische, versteinerte Sprache [der siebziger Jahre], sondern eine viel frischere und neue Sprache», so der Schriftsteller Fuentes.
Kaltblütig, gutgelaunt, «ein halber Poet»
Er habe grüne Augen, spreche mindestens vier Fremdsprachen, sei 25 Jahre alt und kein gebürtiger Chiapaneke - so hatte der erste Steckbrief auf den damals noch fälschlicherweise als Comandante gehandelten Marcos gelautet, der zusammen mit einem grotesken Phantombild in den ersten Januartagen über die Fernsehschirme flimmerte. Einige Wochen später ist man dem wortgewandten Guerillero zwar ein wenig nähergekommen: Auf «ungefähr vierzig» schätzt ihn seine Interviewerin Blanche Petrich, seine Augen seien in Wirklichkeit hellbraun und die fremdsprachliche Begabung beziehe sich hauptsächlich auf die vier wichtigsten Indianersprachen der Region. Ansonsten aber zieht es dieser «kaltblütige und gutgelaunte» Subcomandante, der zudem «ein halber Poet» sei, auch im Gespräch mit der «Jornada»-Journalistin vor, als Person weiterhin ein Rätsel zu bleiben. Ob er generationsmässig ein 68er sei? Er lacht: Da sei er noch «sehr klein» gewesen, seine Politisierung habe eher in den achtziger Jahren stattgefunden, insbesondere während des «letzten grossen Wahlbetrugs 1988». Und eines Tages habe er sich eben entscheiden müssen, «entweder dieses materiell bequeme Leben weiterzuführen oder konsequent zu sein mit ganz bestimmten Ideen».
So gelangte der politisierte Intellektuelle in den lakandonischen Regenwald, «das Schlimmste, was einem Mestizen passieren kann, schlimmer als das Fernsehprogramm ‹24 horas›». Dort habe dann ein gegenseitiger Lehr- und Lernprozess angefangen: «Die Compañeros brachten mir bei, was sie über die Berge wissen, und ich ihnen das, was ich weiss.» Zunächst sei es um das «pure Überleben» in den Bergen gegangen, dann sei er «nach und nach» in der militärischen Hierarchie der Guerilla aufgestiegen - und hat es doch nur zum Subcomandante gebracht. «Zum Comandante fehlt mir die Geduld mit der Presse», scherzt er kokett. Entgegen den verbreiteten Vermutungen über die mestizische Dominanz in der Zapatistenarmee stellt Marcos klar, dass er «einer von genau drei Mestizen» in der Organisation sei.
Die Arbeitsteilung scheint zu funktionieren: Mit den Indianergemeinden treten immer nur die indianischen Comandantes in Kontakt, da die DorfbewohnerInnen Marcos als Mestizen «unmöglich akzeptieren» könnten. Der mestizische Intellektuelle dagegen kommuniziert mit der nichtindianischen Aussenwelt.
So wird der Subcomandante in der mexikanischen Öffentlichkeit auch nicht so sehr als Militär-, denn als genialer Public-Relations-Stratege bewundert. Mit Dutzenden von Pressemitteilungen und offenen Briefen - an Bauern- und Indianerorganisationen, an StudentInnen und Schulklassen, an das mexikanische Volk oder die US-Regierung und nicht zuletzt an Manuel Camacho Solís und Samuel Ruiz, niemals jedoch an die «illegale» Staatsführung - hatte es der Guerillasprecher innerhalb weniger Wochen nicht nur geschafft, Zeitungen wie der «Jornada» einen beispiellosen Verkaufsboom zu bescheren, sondern auch landesweite Sympathien für die Sache der EZLN zu gewinnen - und dabei selbst die Herzen der eingefleischtesten PazifistInnen zu erobern.
Der bislang wohl aufsehenerregendste offene Brief aus der Feder des Subcomandante war wohl die Reaktion auf die grossangekündigte Amnestie-Offerte - «el perdón» - der Salinas-Regierung: «Warum sollten wir um Vergebung bitten? Was habt ihr uns zu vergeben? Dass wir nicht Hungers sterben? Dass wir nicht schweigen in unserem Elend? Dass wir nicht bescheiden diese gigantische historische Last von Verachtung und Verlassenheit akzeptieren?» Es folgen 45 bittere Fragen; die letzte lautet: «Wer also muss um Vergebung bitten, und wer kann sie gewähren?»
Die bewegendste politische Kraft Mexikos
Angesichts der Fülle von erfrischenden und überaus lesbaren Texten übersieht die geneigte Leserin allerdings leicht die weniger verdaulichen Brocken in Marcos’ Diskurs: Beim freien Assoziieren mit der «Jornada»-Reporterin fällt dem EZLN-Sprecher zu «Liebe» dann doch zuallererst die «Vaterlandsliebe» ein; die Früchte des «Sieges» würden wohl «spätere Generationen ernten», und momentan bedeute Sieg noch «Opfer bringen». Der «Tod» sei nichts anderes als «Leben»: «Einen Monat nach Beginn des Krieges haben wir ein Fest gemacht zum Andenken an die gestorbenen Compañeros. Und sie haben gesagt: Ihren Tod sehen wir mit Freude, weil es für andere Leben bedeutet.»
Offensichtlich ist, dass Marcos nicht dieselbe Sprache spricht wie die indianischen Comandantes Ramona, David, Felipe, Javier, Isaac und Moisés, die ebenfalls im lakandonischen Regenwald von der «Jornada» interviewt wurden - ob sie dasselbe meinen, lässt sich nur vermuten. Wo der Subcomandante mit Vorliebe von «ziviler Gesellschaft» spricht, beziehen sich die indianischen Mitglieder des Klandestinen Revolutionären Indianerkomitees (CCRI) einfach auf «das Volk»; ihre Rede in gebrochenem Spanisch ist weit weniger geschmeidig - und dadurch unversöhnlicher - als die ihres akademisch geschulten Sprechers.
Zweifellos ist es aber genau diese wohlüberlegte Übersetzungsstrategie, die aus der chiapanekischen Indianerguerilla im Medienzeitalter eine im Wortsinn moderne Guerilla macht. Denn mindestens ebensosehr wie auf die Mobilisierung vor Ort sind die Aufständischen von Chiapas auf die vielzitierte zivile Gesellschaft und die Medien angewiesen. So erscheint die EZLN, dank Marcos, nicht als amorphe bewaffnete Masse, nicht als anonyme Armen- und Hungerrevolte, sondern als die - in jeder Hinsicht - bewegendste politische Kraft im heutigen Mexiko.
Der «Sub» wirkt erotisierend
Freimütig gibt der Subcomandante zu, dass der von Präsident Carlos Salinas de Gortari schon nach zwei Wochen angebotene Waffenstillstand eine «Überraschung» für die EZLN gewesen sei. Auf einen längeren Krieg sei man logistisch vorbereitet gewesen, nicht aber auf einen «schnellen Dialog». Da diese Feuerpause «von der zivilien Gesellschaft erkämpft» worden sei, schulde man es aber dieser Gesellschaft, sich trotz des «enormen Misstrauens» an den Verhandlungstisch zu setzen. Es gehe dabei zwar nicht um die Machtübernahme, aber auch nicht nur um «regionale Konflikte», wie es die Regierung gerne darstellen wolle. «Die Compañeros sagen ganz klar: Wir haben ein Konzept, aber wir werden es niemandem aufdrängen. Was wir wollen, ist die Schaffung eines demokratischen Raums, und wer darin die Leute überzeugt, gewinnt. Diesen Raum gibt es derzeit nicht - und er muss notwendigerweise national sein.»
Dass diese Hauptforderung nach Demokratie - neben der Landverteilung und der Autonomie für die indianischen Völker - kein städtischer Import im lakandonischen Regenwald ist, zeigt die zutiefst basisdemokratische Entscheidungsstruktur der Guerilla: Das CCRI besteht aus gewählten VertreterInnen jeder Gemeinde, und alle entscheidenden Fragen, wie beispielsweise der Termin für den Kriegsbeginn, werden unter ihnen abgestimmt. Und so wird auch jeder einzelne Punkt künftiger Verhandlungen demokratisch diskutiert werden müssen, erklären die Comandantes; schnelle und spektakuläre Ergebnisse sind vom Medienereignis «Verhandlungen» also nicht zu erwarten.
Dennoch ist der Subcomandante mehr als nur der Übersetzer der Zapatistas. Er verkörpert und aktiviert auch die subversiven Phantasien einer ganzen Generation von Ex- oder MöchtegernrebellInnen - auch in erotischer Hinsicht. Kaum einer aber schreibt darüber so hemmungslos wie José Cueli, der in der «Jornada» sonst bezeichnenderweise Stierkämpfe kommentiert: «Über den Urwald spannt sich die Maske des Super-Marcos, und unser langweiliges, monotones und pessimistisches Leben wird erweckt und öffnet sich für diese Sinnlichkeit des erhitzten Blutes, wütend und überschäumend …» Treffend stellt der überschäumende Cueli fest, dass der Guerilla-Held «die ganze Republik gleichermassen erschreckt und erotisiert» habe.
Einer der wenigen, die nicht dem allgemeinen Marcos-Fieber erlegen sind, ist Magú, der Starkarikaturist der «Jornada». Wochenlang hatte dieser Tag für Tag die vermeintlichen Starallüren und besonders die Skimütze, mit der der «Sub» stets sein Antlitz verhüllt, zeichnerisch aufs Korn genommen. Schliesslich schlug der Guerillero, ein aufmerksamer «Jornada»-Leser, zurück: Eine «mentada de madre» [massiv eins in die Fresse] hatte er dem Zeichner am Schluss des Interviews mit der Kollegin bestellen lassen. Als daraufhin bei der LeserInnenschaft eine allgemeine Empörung ob des aggressiven Tonfalls anhob, liess er dem Karikaturisten eiligst eine selbstentworfene kleine Zeichnung zukommen. In dem liebevollen Karikatur-Imitat stellt der Subcomandante klar, dass die «mentada» nur aus «menta» - aus Pfefferminz - war, und bittet darum, diesmal auf eine Veröffentlichung zu verzichten, denn «ich habe das bittere Gefühl, dass alle Welt mittlerweile die Schnauze voll hat vom ‹Sub›». Mehr als jede neorevolutionäre Rede sind es wohl diese kleinen Sätze, die den Zapata der neunziger Jahre endgültig unwiderstehlich machen.