Klimastreik: Recht auf eine Zukunft

Nr. 2 –

In mehreren Städten der Schweiz begannen Jugendliche Ende 2018, nicht zur Schule zu gehen und gegen die Klimakatastrophe zu streiken. Im neuen Jahr setzen sie ihre Aktionen fort. Ein Porträt von drei AktivistInnen.

Mit unermüdlichem Enthusiasmus und basisdemokratischem Diskussionshunger: Loukina Tille, Jonas Kampus und Ronahi Yener im Restaurant O bolles in Bern.

Keine Stunde sprudelnder Diskussion vergeht, und schon haben sich auf den Smartphones der drei KlimaaktivistInnen Ronahi Yener, Jonas Kampus und Loukina Tille an die 200 Whatsapp-Nachrichten gestaut. Nachdem am 21.  Dezember 2018 4000 Jugendliche in verschiedenen Schweizer Städten streikten, organisieren sie nun rund um die Uhr in mehreren Dutzend Chats Klimastreiks und Aktionen für die kommenden Wochen. Eine der grössten Herausforderungen dieser – ja, nennen wir sie doch jetzt schon so – Bewegung heisst: den Überblick behalten.

Denn alle können mitreden in den Chats und in den Arbeitsgruppen. «Was uns logistisch herausfordert, ist zugleich auch unsere Stärke», sagt der siebzehnjährige Jonas aus Zürich. Er hat den ersten schweizweiten Klimastreik-Chat im Dezember ins Leben gerufen, wehrt sich aber entschieden gegen das Label «Gründer». Der aufmerksame junge Netzwerker weiss um die Tücken von Machtgefällen, wenn sich eine Bewegung als hierarchiefrei verstehen will. «Niemand weiss genau, wie sie startete, und es ist gut, dass sie nicht auf einzelne Personen fokussiert ist. Wir drei sind zwar hier, aber es geht uns darum, die Geschichte von uns allen zu erzählen.»

Die AktivistInnen achten sorgfältig auf transparente Kommunikation, Entscheide an Sitzungen treffen die Jugendlichen nach dem Konsensprinzip. Auch wenn 120 Personen im Raum sind. Auch wenn die Diskussionen sieben Stunden dauern, wie beim letzten landesweiten Treffen in der Reitschule Bern, und auch wenn einige zu Beginn noch nach einem CEO fragten. Die Jugendlichen fordern einen basisdemokratischen Wandel, um die Klimakatastrophe in noch möglichen Grenzen zu halten. Ohne ein einziges Veto an der bundesweiten Sitzung in Bern beschlossen sie die Forderung einer Reduktion der Schweizer CO2-Emissionen auf null bis im Jahr 2030 – und das Ausrufen des nationalen Klimanotstands.

Lehrlinge im Nachteil

Trotz konstantem Hotline-Bling sind Ronahi, Loukina und Jonas während unseres Gesprächs im Restaurant O bolles in Bern keine Sekunde abgelenkt. Zu vieles gibt es von Angesicht zu Angesicht zu besprechen, und solange der für Jugendliche teure öffentliche Verkehr nicht gratis ist, bleiben solche nichtvirtuellen Treffen rar.

Die siebzehnjährige Loukina Tille ist aus Lausanne angereist, dort findet der erste Klimastreik von SchülerInnen am 18. Januar statt. Von den Streikaktionen hat sie über einen Whatsapp-Link in ihrem Klassenchat erfahren. «Keine Ahnung, woher die Nachricht kam. Ich hatte Dokumentarfilme gesehen und Bücher zum Klimawandel gelesen. Ich dachte lange, dass ich die Einzige bin, die sich Sorgen macht.» Sie strahlt. Es gebe so vieles zu tun, sie könne kaum mehr schlafen. In die Schule, die das Thema Klimawandel erfolgreich vom Bildungsprogramm fernhalte, würde sie am liebsten gar nicht mehr. «Was bringt es mir, zur Schule zu gehen, wenn ich keine Zukunft habe.» Es ist der Satz der Stunde, und er kommt aus vielen Tausend jungen Mündern in Australien, Skandinavien, Deutschland oder Grossbritannien, wo ebensolche Klimastreiks von SchülerInnen stattfinden. Kein nachgeplapperter Slogan, keine Floskel. Der IPCC-Bericht des sogenannten Weltklimarats, der im Oktober 2018 veröffentlicht wurde und den drastischen Unterschied zwischen den Folgen einer prognostizierten Erderwärmung von 1,5 Grad und 2 Grad Celsius aufzeigte, macht die Mobilisierung zu einem Selbstläufer. Dabei entstehe, wie Loukina sagt, ein Röstigraben zwischen denen, die sich ohnmächtig fühlen oder Angst haben, etwas durch die nötigen Massnahmen zu verlieren, und «uns, die an fundamentale Veränderung glauben».

Die achtzehnjährige Ronahi aus Zug, die im Sommer 2018 ihre kaufmännische Lehre abgeschlossen hat, zeigt erfreut ihre Whatsapp-Timeline. Da findet sich eine lange Liste unbekannter Telefonnummern, die in der letzten halben Stunde zum Chat dazugestossen sind. Erst am Abend zuvor hatte sie ihn lanciert. Auch in Zug sind bisher vorwiegend SchülerInnen der Kantonsschulen, Fachmittelschulen und StudentInnen aktiv. Für die Jugendlichen, die Lehren absolvieren, sei es schwieriger, sich am Streik zu beteiligen, da sie von unterschiedlichen Personen ihre Absenzen unterschreiben lassen müssten und mehr aufs Spiel setzten, wenn sie ihre Betriebe als Einzelpersonen vor den Kopf stiessen. In Zug, wo klimaschädigende Unternehmen wie Glencore sitzen, gibt es ausserdem viele Jugendliche, die den Sinn von Klimaaktivismus nicht sehen. «Das liegt auch an den vielen wohlhabenden Familien, die eher rechts eingestellt sind und ihre Verantwortung nicht wahrhaben wollen», vermutet Ronahi.

Naiv sind die drei nicht. Auch nicht, was sogenannte KlimaleugnerInnen betrifft: Diese sässen meist nicht lediglich einem «falschen Glauben» auf, den man mit den richtigen Argumenten korrigieren könne. «Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es mächtige politische Interessengruppen gibt, die einen tiefgreifenden Wandel auf keinen Fall unterstützen», sagt Jonas. Öllobbyisten im Nationalrat oder der Schweizer Finanzplatz lassen sich nicht leicht beeindrucken und von ihren Geschäften abbringen. Schweizer Banken, die in umweltschädigende Projekte investieren, wie die Credit Suisse in die nordamerikanische Erdölpipeline, nehmen Menschenrechtsverletzungen schon lange in Kauf.

Lethargische Schweiz

«Es ist wichtig, dass jedes Individuum auf seinen eigenen Konsum schaut, aber es ist noch viel wichtiger, das Problem bei der Wurzel zu packen und die Produzenten direkt zur Verantwortung zu ziehen», sagt Ronahi. Jonas und Loukina schütteln in der Luft mit den Händen, das Gebärdenzeichen für Zustimmung. Diese lautlose Zeichensprache hat sich in der globalisierungskritischen Bewegung durchgesetzt, um Debatten mit einer grossen Anzahl von Menschen zu meistern. Ronahi fährt fort: «Es heisst zwar immer, dass die Schweiz mit Klimaregelungen weit fortgeschritten sei, aber die Sache ist die: Wir beheimaten Firmen, die in anderen Ländern Unfug anrichten.»

In hohem Mass emittierende Industriebranchen wie die Stahlindustrie hat die Schweiz ausgelagert. Laut Bundesamt für Statistik entstehen tatsächlich zwei Drittel der schweizerischen Emissionen «versteckt» im Ausland, und sie steigen jährlich an. Kein Land verursacht mehr Emissionen auf ausländischem Gebiet.

Das bürgerliche Argument, radikale Massnahmen in der kleinen Schweiz hätten global nur einen winzigen Einfluss, kontern die drei sofort: «Wir könnten die Ersten sein, den Klimawandel zu stoppen, indem wir die klimaschädigende Industrie nicht mehr finanzieren.» Auch rein logisch können sie nichts mit dem Argument anfangen: «Wenn jeder Teil der Welt in kürzester Zeit auf null Emissionen runtergehen muss, dann kommt es nicht darauf an, wie gross oder klein ein Land ist», sagt Jonas. Loukina ergänzt: «Wenn wir nichts machen, sind wir trotzdem mittendrin.»

Mittendrin, weil auch die Schweiz von extremen Temperaturschwankungen, von Wasserknappheit und Unwettern nicht verschont bleiben wird. Mittendrin aber auch, weil nach dem IPCC-Bericht die Armut besonders im Globalen Süden als Folge der Klimakatastrophe zu Migrationsbewegungen in bisher nie gesehenem Ausmass führen wird und auch Europa davon nicht unberührt bleiben würde. «Aus migrationspolitischen Gründen bin ich überhaupt zur Klimaaktivistin geworden», sagt Ronahi. «Mich hat immer interessiert, warum Menschen migrieren – wegen meiner Eltern, die kurdische Flüchtlinge sind. Ich bin damit aufgewachsen, am Küchentisch über Politik zu sprechen.»

Eine Schule wilder Sorge

Auch Loukinas und Jonas’ Eltern diskutierten mit ihren Kindern immer über Politisches und unterstützen ihren Aktivismus – nicht ohne die Sorge, dass sie ihre Schullaufbahn vermasseln und sich zu stark involvieren. Während die Jugendlichen in der Schweiz herumreisen, in allen Landessprachen chatten und an Streiktagen nicht zur Schule gehen, müssen sie trotzdem Prüfungen ablegen und mit möglichen Sanktionen von ihren Schulen rechnen. «Eigentlich wissen meine Eltern, dass etwas passieren muss», sagt Loukina. «Ich sprach mit meinem Vater darüber, dass wir ja sehen können, dass der Kapitalismus nicht funktioniert, und er sagte: ‹Oh, hast du denn eine bessere Idee?›» Wenn man aber in einer Situation wie dieser sei und die Energie des gemeinsamen Handelns spüre, dann erscheine alles möglich.

An der grossen Versammlung in Bern sei zu spüren gewesen, dass viel Wissen im Raum zirkuliere, gemeinsam habe man schon so viel gelesen. Es gehe nun darum, dieses Wissen zu Postwachstumsgesellschaften zu nutzen, meint Jonas. Weil die Politik so machodominiert sei, würden rein technische Lösungen in den politischen Debatten überwiegen. Es werde immer nur über Effizienz gesprochen. Eigentlich gehe es aber um einen sozialen Wandel. «Wir müssen uns fragen, wie wir die letzten 200 Jahre gelebt haben und wie wir in Zukunft leben wollen. Denn auch wenn wir nichts tun, wird sich vieles für die Gesellschaften ändern, allerdings auf eine sehr schlechte Art.» Die Klimakids berufen sich durchaus auf grundsätzliche weltanschauliche Werte. Vertrauen und Respekt füreinander heissen die. Die SchülerInnen gehen gerade durch eine Schule wilder Sorge.

Aktionen Klimastreik: Anerkennt die Krise!

Die internationalen Klimabewegungen erstarken. In Grossbritannien erreichte «Extinction Rebellion», dass die Stadt London den Klimanotstand ausrief, die AktivistInnen des Hambacher Forsts stoppten vorerst die Rodung des Waldes für den Braunkohleabbau. Jeden Freitag streiken Tausende SchülerInnen rund um die Welt. Inspiriert von den globalen Klimabewegungen, plant die hiesige Jugend auch im neuen Jahr Aktionen gegen den Klimawandel. An die Gruppen aus Zürich, Bern, Basel und St. Gallen, die im Dezember 4000 SchülerInnen auf die Strassen gebracht haben, schlossen sich kurz darauf Regionalgruppen aus der West-, Ost- und der Zentralschweiz an. Mittlerweile organisieren sich auch Studierende aus verschiedenen Städten in eigenen Gruppen.

Weitere Streiks finden in der Ostschweiz am Freitag, 11. Januar, und landesweit am Freitag, 18. Januar, statt. Für all jene, die nicht streiken können oder wollen, gibt es die Möglichkeit, sich der nationalen Klimademonstration am Samstag, dem 2.  Februar, anzuschliessen. Unter den Hashtags #Fridaysforfuture oder #YouthStrike4Future planen Jugendliche aus verschiedenen Ländern einen internationalen Streik.

Diesen Donnerstag werden zeitgleich mit den Verhandlungen über das revidierte CO2-Gesetz in der zuständigen Ständeratskommission regionale Aktionen organisiert. Der Zürcher Stadtrat Andreas Hauri, Vorsteher des Gesundheits- und Umweltdepartements, lädt die Zürcher KlimaaktivistInnen am selben Tag zum Gespräch ein. Diese schlagen vorerst das Gespräch aus und werden Hauri stattdessen ihren Forderungskatalog in einer symbolischen Aktion überreichen.

Caroline Baur