Klimastreikbewegung: «Wo bleibt der Rest der Schweiz?»
Der Klimastreik war ein Ausbruch aus der Hoffnungslosigkeit. Doch erreicht ist erst wenig, die Politik ist träge. Von der WOZ befragte AktivistInnen sind überzeugt: Der Kampf muss ausgeweitet werden.
Die damals achtzehnjährige Hanna Fischer erfuhr es am Abend zuvor im Chat ihres Wandergrüpplis. Einige SchülerInnen aus Zürich riefen dazu auf, am Freitag, dem 14. Dezember 2018, der fünfzehnjährigen Schwedin Greta Thunberg zu folgen und zu streiken. Man solle sich um 10 Uhr vor dem Zürcher Stadthaus besammeln. Fischer schwänzte ihre Vorlesungen und ging hin. «Plötzlich kamen von allen Seiten Leute, das hat mich sehr berührt. Ich hatte Gänsehaut.»
Unter den Streikenden war auch eine Gruppe zwölfjähriger Mädchen aus einer Schule im Quartier Unterstrass. Sie hatten farbige Schilder gemalt. «Stoppt den Klimawandel! Handelt jetzt!», stand auf einem. Es waren schliesslich etwa 400 Jugendliche und einige Erwachsene, die durch die Stadt zogen und Slogans wie «Wem sini Zuekunft? Eusi Zuekunft» und «System change not climate change» skandierten. Die spontane Demo endete vor dem Hauptgebäude der ETH.
Danach gingen einige in die Mensa, um zu reden. Nicola Bossard, damals 22, war einer von ihnen. Als Student der Umweltwissenschaften und Kopräsident der Jungen Grünen des Kantons Aargau hatte er politische und organisatorische Erfahrung. Er packte seinen Laptop aus und begann, die Filmaufnahmen zu schneiden, die er an der Demo gemacht hatte. Am nächsten Tag wurde sein Clip viral und wurde über 20 000 Mal angeklickt. Eines der Mädchen aus dem Unterstrass-Quartier sagt darin: «Zürich hat angefangen. Wo ist der Rest der Schweiz? Wir müssen alle zusammen kämpfen, und wir müssen es schaffen!»
Ein Hoffnungsschimmer
Die Klimastreikbewegung ist nun ein Jahr alt. Zehntausende Jugendliche gingen in den vergangenen Monaten immer wieder auf die Strasse. Und sie haben bereits viel erreicht: Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema Klima ist stark angestiegen, was sich auch bei den Wahlen im Herbst manifestierte. Auch bürgerliche PolitikerInnen stehen unter Druck, griffige Massnahmen zu beschliessen. In der SP und der Grünen Partei hat die Klimapolitik nun höchste Priorität. KlimaleugnerInnen sind auf dem Rückzug. Viele Städte haben den Klimanotstand ausgerufen oder wollen gar, wie Zürich, die Dekarbonisierung bis 2030.
Doch die KlimaaktivistInnen sind deswegen nicht euphorisch. Die sechzehnjährige Berner Gymnasiastin Lena Bühler sagt: «Konkrete Massnahmen sehen wir viel zu wenige, und nur die zählen.» Hanna Fischer nahm an zwei Gesprächen der Bewegung mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga teil. Sie habe sich davon mehr erhofft. «Sommaruga sagte, ihr seien die Hände gebunden. Aber wenn sie die Bevölkerung mehr über die Klimakatastrophe informierte, würde das schon was bewirken», ist Hanna überzeugt. «Es fehlt der Mut, etwas zu wagen.»
Die Bewegung hat Tausende politisiert und aktiviert. Fischer sagt: «Mir war schon mit neun Jahren klar, dass wir ein riesiges Problem haben. Doch auch Jahre später hatte ich oft den Eindruck, dass das nur wenige Menschen sehen wollen.» Mit den Streiks schien plötzlich alles möglich zu werden. Nicola Bosshard sagt: «Die Bewegung hat eine grosse Energie freigesetzt.» Lena Bühler sagt dazu: «Ich habe in diesem Jahr wahnsinnig viel gelernt; übers Klima, wie man Dinge organisiert, etwas aufbaut. Mein Leben wurde auf den Kopf gestellt.» Cora Tampe (20), Studentin der Umweltwissenschaften, sagt: «Ich bin mutiger, offener, selbstbewusster geworden. Ich habe eine mega coole Zeit erlebt.»
Gefahr der Abschottung
Inzwischen wird die Bewegung von einem AktivistInnenkern von schweizweit einigen Hundert Jugendlichen getragen. Sie bereiten Aktionen vor und diskutieren auf lokaler und nationaler Ebene oft stundenlang über Strategien und Taktiken. In Zürich hat die Bewegung mit dem Klimaraum einen festen Treffpunkt gefunden. Ein kollektiver Lernprozess findet statt, neue Formen der Entscheidungsfindung werden erprobt. Manchmal überfordert die grosse zeitliche Beanspruchung. Fischer studiert Medizin und arbeitet dazu auch vier Stunden pro Woche im Service. Es sei schwierig, die Balance zu finden, Prioritäten zu setzen. Sie fühle sich wegen der Dringlichkeit der Klimakrise verpflichtet, viel zu tun, frage sich aber auch immer wieder: «Wie sollen wir das alles schaffen?» Bühler geht nicht mehr in ihre Theatergruppe, hat mit den Geigenstunden aufgehört und die Zahl ihrer Tanztrainings reduziert. Zudem schlafe sie weniger. Cora Tampe hat sich zum Ziel gesetzt, nur an eine Sitzung pro Woche zu gehen. Bosshard sagt: «Die Klimakrise macht einen psychisch fertig. Wer sich mit so Dingen wie Tipping Points befasst, ist schon etwas anders drauf, sehr ernst.» Es könne demotivierend sein zu realisieren, dass alles nicht so schnell gehe, wie es sollte. Der 24-jährige Jann Kessler hat sein Filmstudium zwei Monate vor Abschluss abgebrochen. Er sah keinen Sinn mehr darin, «in einer Leistungsgesellschaft nach einem Diplom zu streben». Er fasst die Stimmung so zusammen: «Du merkst, wir haben keine Zeit, und gleichzeitig brauchen wir sehr viel Zeit, um den nötigen grundlegenden Wandel herbeizuführen. Das führt zu einem grossen Druck. Sich Zeit für Grundsätzliches zu nehmen und gleichzeitig keine Zeit zu haben, das ist eine sehr toxische Mischung.»
Die Strategie der Bewegung ist relativ klar: den Druck auf die Politik weiter erhöhen und die Bewegung ausweiten. Letzteres ist nötig, damit die AktivistInnen nicht ausbrennen. Bereits gibt es «Eltern fürs Klima», «Grosseltern fürs Klima» oder auch «Scientists for future». Die Demonstrationen sind durchmischter. Doch wirklich tragend für die Bewegung sind weiterhin vor allem die Jugendlichen.
Diese müssen aufpassen, dass sie den Draht zu ihren nichtaktiven AltergenossInnen aufrechterhalten und sich nicht abkapseln. Bühler sagt, inzwischen seien ihre engsten FreundInnen alle aus der Bewegung. In ihrer Klasse ist sie die einzige Aktivistin. Allerdings würden ihre KlassenkameradInnen jeweils geschlossen mit ihr zusammen an die Demonstrationen gehen. Es gibt jedoch auch Schulen, wo die Bewegung inzwischen in vielen Klassen auf Ablehnung stösst, wie die 17-jährige Zürcher Mittelschülerin Annika Lutzke feststellt: «Wenn ich in meinem Gymnasium Rämibühl über den Klimastreik rede, rollen jetzt viele mit den Augen. Dabei war unsere Schule ein Ausgangspunkt der Bewegung.» Nicola bestätigt: «Die Mobilisierung läuft nicht mehr so organisch, sie passiert nicht mehr quasi ganz von selber wie am Anfang.» Lutzke ortet einen Grund dafür in der Tatsache, dass viele der AktivistInnen inzwischen ihre Matura gemacht hätten und nicht mehr zur Schule gingen. Bei den Jüngeren sei das Thema zum Teil nicht mehr cool, der Trend vorbei. Tampe glaubt, dass viele AktivistInnen inzwischen zu sehr in einer Art grünen Blase leben.
Aktionspläne, Massenstreiks
Das ist den AktivistInnen jedoch durchaus bewusst. Viele ihrer Aktivitäten zielen darauf ab, die Bewegung zu stärken, einen breiteren Kreis von Menschen zu involvieren. So arbeitet Fischer an einem Klimaaktionsplan mit. Zusammen mit Dutzenden ExpertInnen will die Bewegung in elf Teilbereichen Konzepte entwickeln, wie die Schweiz bis 2030 auf netto null käme. Fischer engagiert sich dabei in der Teilgruppe Bildung. Die Klimakrise könne nur angegangen werden, wenn mehr Menschen wirklich Bescheid wüssten. Aber: «Es geht nicht nur darum, Informationen über die Klimakrise zu vermitteln, es geht auch um die eigenen Werte. Ich kann wissen, dass etwas sehr schädlich ist, und es trotzdem machen.»
Bühler engagiert sich im Organisationskomitee für den am 15. Mai 2020 geplanten grossen Streik. Im Vorfeld des Streiks werden Netze zu unterschiedlichsten Organisationen wie Gewerkschaften und BäuerInnenverbänden geknüpft, und es wird darauf hingearbeitet, dass sich in Quartieren und Dörfern Streikkollektive bilden, «damit sich die Leute selber organisieren». Die letzten zwei Wochen war sie an der Klimakonferenz in Madrid, wo sie an einer Podiumsdiskussion von Fridays for Future auftrat und mit Delegierten, anderen AktivistInnen und NGO-VertreterInnen Gespräche führte. Von der Schule erhielt sie einen Dispens.
Bosshard sieht sich als kreativen Querdenker, der etwa mit Videointerventionen in die Diskussion eingreifen will. So kämpft er gegen die «neoliberale Schnapsidee» an, dass durch individuelle Konsumentscheide die Klimakrise gestoppt werden könne. «Die Medien erweisen dem Klimadiskurs einen Bärendienst, wenn sie zum Beispiel Listen wie ‹75 Ideen, wie Sie den Klimawandel stoppen können› verbreiten.» Dabei sei in der Geschichte noch kein einziges Umweltproblem durch sogenannte Eigenverantwortung gelöst worden.
Weder verstellen noch verkaufen
Tampe engagiert sich in der Zürcher Mediengruppe. An der letzten Demonstration in Zürich, an der rund 4000 Menschen teilnahmen, hielt sie zum ersten Mal eine Rede. Sie begründete darin, weshalb die Schweiz nur schon aus Gründen der Klimagerechtigkeit im kommenden Jahr ihre Treibhausgasemissionen um dreizehn Prozent senken müsse.
Lutzke trägt sich mit der Idee, an den Schulen Workshops zur Klimakrise anzubieten, um so die SchülerInnen wieder mehr zu aktivieren. «Andere veranstalten Thementage etwa zur Suchtprävention, dasselbe wollen wir beim Thema Klima machen.» Und Jann Kessler arbeitet in der nationalen Arbeitsgruppe Kommunikation mit. Er sieht sich als «Flugameise», die zwischen den verschiedenen Städten pendelt, Diskussionen vermittelt und die interne Kommunikationskultur verbessert. Gegen aussen soll die ganze Gesellschaft angesprochen werden. «Es soll klar werden, dass es das Ziel der Bewegung ist, unsere Lebensgrundlagen zu sichern», sagt er. Man müsse sich dafür weder verstellen noch verkaufen: «Ich verstehe die Rolle des Klimastreiks so, dass wir alle gesellschaftlichen Akteure unter Druck setzen und allen, auch den Grünen, sagen: Ihr macht viel zu wenig fürs Klima. Wir müssen aber auch allen die Hand ausstrecken und sagen: Wir sind gesprächsbereit.»
«Immer grotesker»
Am Sonntag ging die Klimakonferenz in Madrid (COP25) zu Ende. Schon das Programm war eine Enttäuschung: Anstelle von Plänen zur Treibhausgasreduktion stand der Emissionshandel im Vordergrund – und nicht einmal bei diesem Thema gab es eine Einigung. «Die Kluft zwischen Wissenschaft und Politik wird immer grotesker», schreibt der WWF Schweiz. «Der Einfluss der Handlanger der Fossilindustrie war an dieser COP sichtbar wie noch nie», heisst es bei Greenpeace Schweiz.
Zu Recht empört sind auch VertreterInnen der ärmsten Länder: Sie fordern Geld für Klimaschutzmassnahmen und die Anpassung an Schäden, die bereits heute entstehen. Doch die reichen Länder weigern sich, angemessen zu bezahlen.
Am 6. Dezember demonstrierten in Madrid Hunderttausende für einen griffigen Klimaschutz. Fünf Tage später äusserten 300 AktivistInnen den Protest auch in den Hallen der Konferenz – und wurden rausgeschmissen.