Durch den Monat mit Katja Brunner (Teil 4): Wie konsumiert man Kunst?

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Laut der Schriftstellerin Katja Brunner steigt mit zunehmender politischer Angstmache auch das Bedürfnis nach klar lesbaren Narrativen. Gerade deshalb plädiert sie für mehr Mehrdeutigkeit.

Katja Brunner: «Oft konsumieren wir etwas, ohne zu wissen, welche Verweise dahinterstecken. Deshalb sollte man den Konsum entschleunigen.»

WOZ: Frau Brunner, ist Kunst ein Luxusgut?
Katja Brunner: Dass die Menschen in der Gesellschaft nach künstlerischem Ausdruck suchen, ist meiner Meinung nach kein Luxus, sondern ein urmenschlicher Instinkt, ein Grundbedürfnis. Die Frage, die sich stellt, ist: Ab wann ist etwas Kunst? Es gibt Menschen, die Werbung machen und diese als Kunst betrachten. Oder in der Schweiz gibt es eine starke Tradition von grafischen Arbeiten. Wann ist Grafik einfach Grafik und wann Kunst?

Laut dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno ist Kunst nur dann authentisch, wenn sie keine sicht- und definierbare Funktion hat.
Diese Aussage von Adorno und den Vertretern der Frankfurter Schule ist im Hinblick auf ihre Erfahrung mit Totalitarismus zu lesen. Kunst wurde in totalitären Regimes immer mit propagandistischen Mitteln verknüpft. Sobald ein Staat entscheidet, welche Kunst gesehen werden darf und welche nicht, ist es offensichtlich, dass Kunst einen Zweck haben soll. Durchhaltefilme wie «Die Feuerzangenbowle», gedreht während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, verfolgten ein klar politisches Ziel, selbst in der Verkleidung der Komödie.

Man könnte argumentieren, dass es der Zweck des Theaters sei, die Menschen zu sensibilisieren.
Klar gibt es einen Zweck, aber dieser darf nicht zu berechenbar sein. Berechenbarkeit würde bedeuten, dass es nur eine Lesart und somit keine Vieldeutigkeit gäbe. Bei meinem künstlerischen Programm geht es in erster Linie darum auszuhalten, dass gewisse Inhalte mehrdeutig sind. Man muss lernen, damit umzugehen, dass ein Abend keine Antworten präsentiert, nicht nur eine Idee bewirbt.

In Filmen sehen wir immer wieder Produktplatzierung. Ist Kunst lediglich ein Rädchen im Getriebe der Konsumgesellschaft?
«Konsum» hat einen abwertenden Beigeschmack. Ich würde die Frage umkehren: Was konsumieren wir, das ursprünglich einmal Kunst war? Wo sind wir automatisch mit Kunst konfrontiert? Werbung nimmt beispielsweise häufig Bezug auf Kunstwerke – oder auch die Modeindustrie. Oft konsumieren wir etwas, ohne zu wissen, welche Verweise dahinterstecken. Deshalb sollte man den Konsum entschleunigen. Konkret heisst das, auch einmal etwas zu konsumieren, das nicht eindeutig lesbar ist.

Hat man wirklich erst dann Kunst konsumiert, wenn es schwierig war? Ist das nicht ein wenig elitär?
Kunst sollte nicht «schwierig» sein, finde ich. In der Volksschule lernen wir gewisse Instrumente kennen, die uns Kunst näherbringen sollen, zum Beispiel die Interpretation von Gedichten. Doch es existiert eine Trennung zwischen Unterhaltungsliteratur und ernsthafter Literatur, die man schon als elitär bezeichnen könnte. Nur die Unterhaltung scheint für die «breite Masse» verständlich.

Vielleicht genügt es vielen, wenn sie einfach unterhalten werden?
Wir sollten uns bewusst sein, dass unsere Sehgewohnheiten antrainiert sind. Vor ein paar Tagen habe ich die Comicverfilmung «Aquaman» im Kino gesehen. Es war wirklich schlimm, die pure Verblödung. Ein schlecht gemachter, humorloser Action-Superhelden-Streifen mit stereotypen Männlichkeitsbildern und seltsamen Vorstellungen von Liebe. Doch der Film ist ein weltweiter Kassenschlager. Irgendwie wurden wir dazu erzogen, diese Art von Filmen zu konsumieren. Wenn man nämlich einen Film schaut, der vor dreissig Jahren ähnlich populär war wie zum Beispiel Martin Scorseses «Mean Streets», ist dieser viel komplexer. Damals waren Zuschauerinnen und Zuschauer vielleicht noch anders erzogen.

Ist unsere Generation zur Dummheit erzogen?
Nein. Gerade in Zeiten, in denen der Ton zwischen politischen Fraktionen rauer und Nationalismus wieder ganz grossgeschrieben wird, scheinen die Menschen vermehrt ein Bedürfnis nach klaren und einfachen Antworten zu entwickeln. Sie sind mehr auf Sicherheit bedacht, eine Tendenz zu Wertekonservatismus und vermeintlich verlässlicher Lebensplanung. Das kreiert ein Bedürfnis nach klaren, lesbaren Helden und Heldinnen. Das ist vergleichbar mit religiösen Fanatikern, die glauben, Bibelstellen seien auch nur auf eine Art zu lesen. Ausserdem orientiert sich heute irgendwie alles an Meinungen, finde ich. Die eigene Meinung zu vertreten, scheint fast gleich wichtig wie der tägliche Gang zur Toilette. Unter diesen Voraussetzungen hat man natürlich Mühe, etwas anzuschauen, das nicht klar befiehlt, wie man es rezipieren soll.

Sind Sie zufrieden, wenn das Publikum nach einem Ihrer Stücke ratlos zurückbleibt?
Natürlich will auch ich mit meinen Stücken einen Anstoss vermitteln. Wie subtil oder wie klar dieser aber im Theater rüberkommt, variiert von Stück zu Stück. Ausserdem spielt die Umsetzung eine essenzielle Rolle; sie kann eine allfällige Botschaft ganz klar und viel zu explizit machen oder aber das Gegenteil. Idealerweise ist es der mehrdeutige Raum dazwischen.

Im Mai wird das Theaterstück «Die Hand ist ein einsamer Jäger» von Katja Brunner (27) an der Berliner Volksbühne uraufgeführt.