Krankenkassenprämien: Eine fällige Ohrfeige
Für gegen 300 000 Haushalte soll die Prämienlast sinken – dank eines Bundesgerichtsurteils. Die SP droht betroffenen Kantonen mit Klagen.
Ein Ende letzter Woche publiziertes Bundesgerichtsurteil stellt fest: Der Kanton Luzern hat die Einkommensgrenze für Prämienverbilligungen zu tief abgesenkt, damit Bundesrecht verletzt und letztlich Prämienverbilligungsgelder zweckentfremdet. «Das Urteil hat für andere Kantone Signalwirkung», sagt die St. Galler SP-Nationalrätin Barbara Gysi gegenüber der WOZ.
Die SP will weiteren Kantonen mit zu tiefen Prämienverbilligungen Beine machen. Gysi hat zunächst jene im Visier, die die gesetzlichen Vorgaben erheblich unterschreiten: beide Appenzell, Bern, das Wallis, Glarus, der Aargau und Neuenburg. An einer Pressekonferenz der SP Schweiz in Bern forderte sie diese Kantone auf, innert Monatsfrist Anpassungen in die Wege zu leiten. «Geschieht dies nicht, wird die SP Schweiz zusammen mit den Kantonalparteien vor Ort diese Kantone verklagen.» Die SP gehe davon aus, dass wegen des Bundesgerichtsurteils gegen 300 000 Haushalte neu ein Anrecht auf Prämienverbilligungen hätten. Wo noch möglich, wird die SP in den Kantonsparlamenten rasch Vorstösse einreichen, damit die Regierungen ihre Berechnungsgrundlagen offenlegen.
Zweckentfremdete Gelder
Auslöser ist ein Debakel im Kanton Luzern. Dort erhielten 2017 rund 7900 Luzerner Familien und Alleinerziehende mit verbilligten Kinderprämien dicke Post: Die Prämienverbilligungen wurden ihnen kurzerhand gestrichen, und sie mussten sogar bereits ausbezahlte Gelder wieder zurückzahlen (siehe WOZ Nr. 39/2017 ).
Die Folgen schildert der ebenfalls nach Bern gereiste Luzerner SP-Kantonalpräsident David Roth: Dutzende Mütter und Väter hätten sich gemeldet und verzweifelt Rat gesucht. «Eine Frau schrieb, dass sie ihr Instrument verkauft habe, um die Rückzahlung zu finanzieren. Ein Jugendlicher hat mir kürzlich gesagt, dass die Eltern monatelang beim Essen gespart hätten, um die Rückzahlung zu finanzieren. Ein Vater erzählte mir, sie hätten sich die bescheidenen Ferien nicht mehr leisten können.»
Der Kanton Luzern hat wegen seiner Tiefsteuerpolitik schon manche Schlagzeilen geliefert, doch was er sich 2017 leistete, war dreist. Er stopfte mit fünfzehn Millionen Franken Prämienbeihilfen ein Finanzloch, das wegen einer gescheiterten Steuererhöhung entstanden war. Der Trick war simpel: Er senkte die Einkommensgrenze für Prämienverbilligungen von 75 000 auf 54 000 Franken.
Auch für mittlere Einkommen
Betroffene Familien wehrten sich mit Unterstützung der Luzerner SP beim Kantonsgericht. «Es geht hier um eine Rechtsverweigerung und eine Rechtsverzögerung durch den Kanton. Die Versicherten müssen ausbaden, dass der Kanton kein Geld hat», sagte 2017 der Luzerner Anwalt Bruno Häfliger, der die KlägerInnen vertrat.
Vor Kantonsgericht blieb der Erfolg aus, doch nun gibt das Bundesgericht den KlägerInnen recht: Der Kanton habe das Einkommenslimit zu tief angesetzt, es sei mit dem Sinn und Zweck der bundesrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar. Häfliger deutscht das so aus: «Das Bundesgericht stützt sich auf den erklärten Willen des Parlaments, dass nicht nur sehr tiefe, sondern auch mittlere Einkommen unterstützt werden sollen.»
Das Urteil ist eine Ohrfeige für die bürgerliche Luzerner Regierung und die rechtsbürgerliche Mehrheit im Kantonsrat. Anwalt Häfliger schätzt, dass der Kanton für 2017 und 2018 sowie das laufende Jahr 30 bis 35 Millionen Franken vorenthaltener Prämienverbilligungen an die betroffenen Familien zurückzahlen muss.
Weil die SP den Kantonen bei der Festsetzung von Prämienverbilligungen nicht traut, lanciert sie im Frühjahr ihre Prämienentlastungsinitiative. Sie verlangt, dass kein Haushalt mehr als zehn Prozent seines Haushaltseinkommens für die Krankenkassenprämien ausgeben muss. Das bedeutet mehr Prämienverbilligungen für noch mehr Haushalte.
Auch im Kanton Luzern lässt die SP nicht locker. Sie hat bereits die Initiative «Sichere Prämienverbilligung – Abbau verhindern» eingereicht. Damit will die SP der Zweckentfremdung der Prämienbeihilfengelder einen Riegel schieben.
Nachtrag vom 21. Februar 2019 : Die SP trifft einen Nerv
Im Sorgenbarometer der SchweizerInnen rangieren die Gesundheitskosten nach der Altersvorsorge an zweiter Stelle. Die SP trifft deshalb mit ihrem Engagement für Prämienverbilligungen im Wahljahr einen Nerv. Die Partei lanciert am nächsten Dienstag ihre Prämienentlastungsinitiative: Demnach dürften die Krankenkassenprämien höchstens zehn Prozent des Haushaltseinkommens ausmachen.
Die Erfolgschancen stehen nicht schlecht. Wie existenziell die Prämienlast ist, konnte man Ende Januar feststellen. Das Bundesgericht pfiff aufgrund einer Klage von betroffenen Familien in einem Urteil den Kanton Luzern zurück, der die Einkommensgrenze von Familien für Prämienverbilligungen drastisch gesenkt hatte. Die ebenfalls gesenkte Einkommensgrenze von Einzelpersonen bleibt hingegen tief, und nur wenige haben noch eine Chance auf Verbilligung.
Die bürgerliche Luzerner Regierung hat reagiert und will den Bundesgerichtsentscheid rasch umsetzen. Die SP doppelte nach und drohte sieben weiteren Kantonen, die wie Luzern die gesetzlichen Vorgaben deutlich unterschreiten, innert Monatsfrist mit Klagen. Allerdings sind praktisch alle Kantone in diesem Bereich grenzwertig unterwegs. Mittlerweile haben die Regierungen von St. Gallen und Zürich reagiert. Sie wollen entsprechende Anpassungen nach oben vornehmen und das Bundesgerichtsurteil umsetzen. Auch in den Kantonen Bern und Solothurn setzen sich SP-Regierungsrätinnen für eine Anpassung ein. «Noch ist es zu früh für einen Überblick», sagt SP-Generalsekretär Michael Sorg. Am nächsten Dienstag, bei der Lancierung der Prämienentlastungsinitiative, wird die SP in dieser Sache ein erstes Fazit ziehen.
Die rechtsbürgerliche Mehrheit in Bern hat kein Ohr für die Sorgen der BürgerInnen und politisiert gegen deren Interessen. In der Frühlingssession wollen die Rechtsbürgerlichen die Franchisen erhöhen. Ein Vorschlag sieht eine Erhöhung mit einem kostenabhängigen Automatismus vor, ein anderer, die Mindestfranchisen von 300 auf 500 Franken anzuheben.
Andreas Fagetti