Durch den Monat mit Judith Eisenring (Teil 1): Wie überleben linke Projekte?
Die Hebamme, Sexualpädagogin und Feministin Judith Eisenring erzählt von düsteren Gestalten in den ersten Genossenschaftsbeizen der achtziger Jahre, ihrer Landflucht und wie sie auf dem Nachhauseweg heimlich in Zürich ausstieg, um an einer Demonstration teilzunehmen.
WOZ: Judith Eisenring, hinter Ihnen liegt eine hitzige Versammlung der St. Galler Genossenschaftsbeiz Schwarzer Engel. Sie waren dem Umfeld nahe, das die Kollektivbeiz 1986 mit aufbaute. Wieso brauchte es damals ein solches Restaurant?
Judith Eisenring: Nachdem die einzige Genossenschaftsbeiz in der Stadt, der Bündnerhof, geschlossen hatte, war klar, dass es etwas Neues brauchte. Und wir wollten in die Realität umsetzen, was wir allen anderen angekreidet hatten: Wir wollten gleichberechtigt, zum gleichen Lohn und vor allem ohne Chef oder Chefin arbeiten. Obwohl es viele Betriebe in anderen Städten gab, die ohne solche Hierarchien funktionierten, war das in St. Gallen für viele undenkbar. Die Lieferanten im Genossenschaftsladen, wo ich später arbeitete, fragten immer nach dem Chef, und damit waren automatisch immer die Männer im Kollektiv gemeint.
War die Beiz darüber hinaus auch für die politische Szene in St. Gallen wichtig?
Natürlich. Der «Engel» war ein autonomer Ort, der eine bestimmte Infrastruktur bot. Die Besetzung des Hotels Hecht am St. Galler Marktplatz an Weihnachten 1988 wäre ohne den «Engel» nicht möglich gewesen. Auf dem Dach der Beiz wehte eine schwarze Fahne. Das hat aber kaum jemand mitbekommen.
Wieso sind Sie heute noch immer als Genossenschafterin dabei?
Vielleicht weil ich kein Haus gekauft habe (lacht). Es soll tatsächlich Leute gegeben haben, die ihre Genossenschaftsscheine mit der Begründung zurückgaben, ein Haus kaufen zu müssen. Der «Engel» ist immer noch eine der wenigen Beizen, in die ich alleine reingehe. Früher war das als Frau noch viel schwieriger. Das erste Mal in eine Kollektivbeiz zu gehen, war für mich Landei wie eine Mutprobe. Da sassen am Nachmittag lauter schwarz angezogene Gestalten am Stammtisch und rauchten. Da wurde gar niemand bedient, die waren so mit sich selbst beschäftigt.
An der heutigen Versammlung wurde über den politischen Charakter der Beiz gesprochen. Überleben linke Projekte wegen oder trotz ihrer dezidiert linken Positionierung?
Ich glaube, dass sie nur überleben, wenn Menschen an ihre Utopien glauben und sie verwirklichen wollen. Viele solcher Ideen, wie etwa Bio- und Fairtrade-Produkte oder Gleichstellungsfragen, wurden auch von anderen übernommen, dadurch aber weichgespült. Manchmal überleben sie auch dank Krisen.
Und woran scheitern sie?
Ich glaube, es hängt mit einer gewissen ideologischen Sturheit zusammen, mit Schwarzweissdenken. Ich bin mit der katholischen Kirche aufgewachsen: Das Dogmatische, Leute, die genau wissen, was richtig und falsch ist, das kannte ich schon. Das brauchte ich nicht auch noch in der linken Bewegung.
Sie sind auf einem Bauernhof in Jonschwil SG aufgewachsen. Wie wurden Sie politisiert?
Das habe ich mich oft gefragt. Das Gute an der katholischen Erziehung war, dass immer klar war: Es gibt Leute, denen es weniger gut geht, denen man helfen muss. Meine Eltern sind Kriegsgenerationskinder, das Essen war ein grosses Thema, aber im Positiven. Dadurch hatten wir immer Leute im Haus, die mitgegessen haben. Es wurde immer alles geteilt.
Danach sind Sie über einen kleinen Abstecher in die Romandie in St. Gallen gelandet und haben eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen, wie man Pflegefachfrauen damals nannte. Wieder, um zu helfen?
Diese Ausbildung ermöglichte mir, ins Ausland zu gehen. Nicht um zu helfen, wie meine Verwandten, die auf katholischer Mission waren. Ich war neugierig auf alles und wollte dringend weg. Ich musste ja regelrecht vom Land flüchten. Ich habe schon in der Oberstufe gemerkt, dass ich anders bin: Familie, Kinder und Einfamilienhaus, das war nicht mein Ding.
Neugierig worauf?
Als ich noch im Welschland als Au-pair arbeitete, bin ich auf der Rückreise nach St. Gallen in Zürich ausgestiegen, um an einer Demo teilnehmen zu können. Ich habe das meiner Familie verschwiegen. Und Zürich hat wirklich gebrannt. Ich weiss nicht mehr, ob mir die Polizei oder die Leute an der Demo mehr Angst gemacht haben. Aber ich war auch fasziniert. Ohne diese Neugier wäre ich nie aus dem Kaff herausgekommen. Ich hatte aber auch Glück.
Inwiefern?
Viele Leute, die einen ähnlichen Weg wie ich gegangen sind, sind «driigloffä» und dadurch gebrochen worden: durch Repression, Drogen oder politische Aktionen. Das hätte mir auch passieren können. Glück hatte ich etwa bei der Besetzung des Hotels Hecht. Ich habe sie mitorganisiert, habe immer da geschlafen. Am letzten Abend bin ich gegangen, am Morgen stürmte die Polizei das Haus.
Sie sind mit Ausnahme eines Nicaragua-Aufenthalts immer in St. Gallen geblieben. Wieso?
Die Stadt hatte immer eine gute Grösse für mich. In grösseren Orten gab es immer wieder politische Spaltungen und Konflikte. Das konnten wir uns in St. Gallen nicht erlauben.
Judith Eisenring (56) sagt, mit gewissen Projekten sei es wie mit Liebesbeziehungen: «Im Nachhinein merke ich, dass sie zwar gut und wichtig waren, aber früher hätten beendet werden sollen.»