Durch den Monat mit Judith Eisenring (Teil 4): Wie revolutionär ist weibliche Lust?

Nr. 13 –

Wer wieso bei der Dargebotenen Hand anruft, warum auch die Freiwilligen dort anonym bleiben und was Essen mit Sex zu tun hat.

Judith Eisenring: «Selbstbestimmung heisst nicht Selbstoptimierung.»

WOZ: Frau Eisenring, die Freiwilligenarbeit zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr Leben. Wer hilft Ihnen in schwierigen Lebensphasen?
Judith Eisenring: Ich habe ein gutes Beziehungsnetz und eine gute Beziehung, die mir den Rücken stärkt. In solchen Phasen brauche ich aber auch einfach Zeit für mich selbst, muss raus an die frische Luft.

Ist es manchmal schwierig, sich selbst helfen zu lassen?
Meine Hemmschwelle, bis ich sage, jetzt geht es nicht mehr, war immer sehr hoch. Ich wollte immer selbstständig und selbstbestimmt sein, es war mir immer wichtig, alleine zurechtzukommen. Ich tat mich darum lange Zeit schwer damit, Hilfe anzunehmen. Heute kann ich das besser, aber immer noch nicht gut.

Seit Dezember 2018 leiten Sie die Geschäftsstelle des Ostschweizer Nothilfetelefons 143. Existiert die Dargebotene Hand nur wegen der Freiwilligenarbeit?
Es ist ein 24-Stunden-Betrieb, es wäre unmöglich, den Einsatz aller Freiwilligen zu bezahlen. Es geht nur, weil die Leute, die für das Zuhören am Telefon, das Schreiben im Chat oder Mail zuständig sind, das unentgeltlich und freiwillig machen. Wir finanzieren uns über private und öffentliche Spendengelder. Die DH füllt eine Lücke, die im professionellen Betreuungssystem besteht. Diese zu füllen, ist sehr nötig. Die Schwierigkeit, Freiwillige zu finden, ist umso dramatischer, als dass in den letzten Jahren die Anrufe bei uns stark zugenommen haben; gesamtschweizerisch waren es im letzten Jahr eine Viertelmillion Kontakte.

Was für Menschen melden sich bei der DH?
Viele Leute denken, die DH sei nur für Suizidgefährdete im Akutfall. Das stimmt nur für einen kleinen Teil der Anrufe. Die meisten leiden unter Einsamkeit, auch junge Menschen. Sie brauchen den Kontakt zur DH, um ihren Lebensalltag bewältigen zu können. Alle schätzen es, dass sie uns anonym am Telefon oder online ihre Sorgen anvertrauen können. Für nicht wenige bedeutet unser Angebot auch, dass sie trotz ihres psychischen Leidens zum Beispiel noch selbstständig wohnen können und nicht in eine Institution müssen. Manchmal hat es auch finanzielle Gründe, wenn sie sich hilfesuchend an uns wenden: Nicht alle können sich therapeutische Betreuung leisten.

Bleiben auch die Freiwilligen anonym?
Ja, sie arbeiten mit einem Pseudonym. Es geht darum, dass sich alle getrauen, bei uns anzurufen, und sich nicht davor fürchten, plötzlich ihre Nachbarin oder ihren Schwager am Telefon zu haben. Und selten kommt es auch vor, dass Mitarbeitende beschimpft werden, dann ist es ein Schutz für die Freiwilligen. Mich fasziniert diese Form der unsichtbaren Freiwilligenarbeit. Die Leute tun Gutes und sprechen nicht darüber. Das entspricht auch mir selber, weil es mir in erster Linie darum geht, dass etwas gemacht wird, und nicht darum, dass ich es gemacht habe.

Sie arbeiten auch noch als Sexualpädagogin. Was reizt Sie an dieser Arbeit?
Nach meiner Ausbildung zur Pflegefachfrau und Hebamme war es für mich die logische Folge, mich auch mit sexueller Bildung auseinanderzusetzen. Ich arbeite vor allem in Primarschulen, in der Oberstufe und in der Berufsbildung. In erster Linie geht es mir dabei um weibliche Selbstbestimmung. Viele junge Frauen haben den Blick von aussen, wie sie als Frauen sein müssen, verinnerlicht. Selbstbestimmung heisst aber nicht Selbstoptimierung. Viele setzen sehr viel daran, ihren Körper zu optimieren, was aber genau das Gegenteil von Selbstbestimmung ist. Laurie Penny schreibt in einem ihrer Bücher davon, dass über achtzig Prozent der Frauen nicht das essen, was sie essen wollen.

Sie haben einmal gesagt, weibliche Lust sei für Sie revolutionär. Inwiefern?
Die Unterdrückung der weiblichen Lust ist immer noch präsent, wenn auch anders als früher. Die ganze sexuelle Revolution hängt für mich mit der Verhütungsfrage zusammen: Dank der Antibabypille konnten Frauen ihre Fruchtbarkeit kontrollieren. Das hat ihnen ganz viel Sicherheit und Freiheit gebracht. Heute besteht die Gefahr, dass im Zusammenhang mit Sexualität zu wenig über Lust und die Freude am Entdecken geredet wird. Es dominieren Themen wie sexuelle Gewalt oder übertragbare Krankheiten. Sexualität muss körperlich erfahrbar sein, sie findet zwar als Fantasie auch im Kopf statt, aber alleine über das Darübernachdenken kommen wir nicht weiter.

Und obwohl Sex medial sehr präsent ist, wird immer noch kaum darüber gesprochen.
Ich selber wünsche mir auch, dass ich leichter über meine eigene Sexualität sprechen könnte. In den Schulklassen stelle ich eine grosse Verunsicherung fest. Es wurde zwar mit vielen Konventionen gebrochen, was traditionelle Beziehungsformen angeht. Wissen über Sexualität ist zugänglich geworden. Trotzdem haben viele Menschen grosse Angst, etwas falsch zu machen. Sie sagen sich dann: «Komm, wir lassen es besser.» Dabei ist es vielleicht wie beim Beispiel mit dem Essen und dem Körper: Wenn du ein bestimmtes Bild im Kopf hast, wie es sein sollte, dann traust du dich gar nicht, das zu machen, worauf du eigentlich Lust hättest.

Judith Eisenring (56) konnte sich nie vorstellen, zu hundert Prozent Lohnarbeit zu machen, weil ihr dann die Zeit für Freiwilligenarbeit gefehlt hätte.