Extinction Rebellion: Sommerfest fürs Klima

Nr. 16 –

Tausende AktivistInnen haben diese Woche die «Klimarebellion» ausgerufen. Ihre Bewegung ist in den letzten Monaten erstaunlich schnell gewachsen – und mittlerweile nicht mehr zu übersehen. Ein Augenschein im Zentrum der britischen Hauptstadt.

So still war es in diesen Strassen schon lange nicht mehr. Auf der Kreuzung beim Marble Arch im Zentrum Londons, wo normalerweise donnernde Lastwagen und hupende Taxis dominieren, ist am Montagmittag kein einziges Auto zu sehen, nur vereinzelte RadfahrerInnen drehen locker ihre Kreise. Hunderte Protestierende von Extinction Rebellion (XR) haben kurz zuvor die Zufahrtsstrassen blockiert, auch drei andere Kreuzungen in der Innenstadt sowie die Waterloo Bridge sind zu diesem Zeitpunkt gesperrt. Es ist der Beginn der grössten Aktionswoche, die die schnell wachsende britische Umweltbewegung bislang aufgezogen hat.

Bing Jones, ein pensionierter Arzt aus Sheffield, ist fast seit der Gründung von XR im Oktober 2018 dabei. Er hat geholfen, den Protest zu organisieren. «Wir wollen die Regierung zwingen anzuerkennen, dass es sich bei der Klimaerwärmung um einen akuten Notstand handelt – das ist unser unmittelbarstes Ziel», sagt der 66-Jährige. XR hat zwei weitere Kernforderungen: Die Regierung müsse Massnahmen treffen, um die Treibhausgasemissionen bis 2025 auf null zu reduzieren, und sie soll sich dabei von den Entscheidungen von BürgerInnenversammlungen leiten lassen.

Dies wollen die AktivistInnen erreichen, indem sie das Londoner Zentrum mindestens eine Woche lang lahmlegen. Wenn die Regierung nicht reagiert, soll die «Klimarebellion» ausgeweitet werden. An ihrer Entschlusskraft lassen die TeilnehmerInnen beim Marble Arch keine Zweifel: Viele sind mit Schlafsäcken und Zelten gekommen, mit Lastwagen haben sie Altholz gebracht, aus dem sie Hütten zusammenbauen, innert kürzester Zeit stellen sie grosse Überdachungen auf den Rasen.

Livemusik und Yogastunden

Zwei Stunden nach Beginn des Protests hat sich die Kreuzung in ein Sommerfest verwandelt. Hunderte Leute bummeln umher, auf einer temporären Bühne wird Livemusik gespielt, auf dem Asphalt spielt man Karten oder liegt einfach in der Sonne. Die Yogastunde, die in einem grossen Zelt mit Teppichboden stattfindet, ist bereits überbelegt. Ein Aktivist zimmert aus Holzbrettern eine umweltfreundliche Toilette, die Exkremente zu Dünger macht, daneben bemalen Kinder die Strasse mit Kreide. Es ist eine gesellige Atmosphäre, viele Protestierende sind mit ihrer ganzen Familie gekommen, eine junge Frau mit ihrem dreiwöchigen Baby.

Emily Bowden und Tess De Wet, zwei Teenager aus Südlondon, haben sich in grelle Bananenkostüme gehüllt. Wieso, das wissen sie auch nicht so genau: «Wir dachten, zumindest fallen wir so auf.» Genau das ist es auch, was sie an XR schätzen: «Es ist an der Zeit, dass wir etwas tun, das Aufmerksamkeit erregt und einen wirklichen Wandel bewirkt», sagt De Wet. «Wir wollen nicht nur Petitionen unterzeichnen, sondern selbst aktiv werden. Wir haben es satt, Dinge zu tun, die man leicht ignorieren kann.»

XR ist mittlerweile tatsächlich schwer zu übersehen. Immer wieder in den vergangenen fünf Monaten haben die AktivistInnen im ganzen Land öffentlichkeitswirksame Proteste inszeniert und sich durch zivilen Ungehorsam in die Schlagzeilen gebracht. Im November beispielsweise blockierten sie fünf Brücken über die Themse. Mehrere Dutzend Protestierende wurden verhaftet, darunter auch Bing Jones. «Ich fühlte eine riesige Erleichterung, als ich festgenommen wurde», sagt er. «Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl, etwas getan zu haben, das einen Unterschied macht.»

Die Menge als Trumpf

XR nehme sich unzählige Bewegungen zum Vorbild, die es durch friedlichen Protest zum Erfolg gebracht hätten: die Suffragetten in Grossbritannien, die ApartheidgegnerInnen in Südafrika oder die BürgerrechtlerInnen in den USA. «Eine gewaltlose Bewegung, die sehr viele Menschen umfasst, von denen einige bereit sind, die Verhaftung zu riskieren, kann sehr viel bewirken», sagt Jones.

Die Menge ist ihr Trumpf – XR ist in den vergangenen Monaten erstaunlich schnell gewachsen. In Grossbritannien gibt es weit über hundert lokale Gruppierungen, die sich regelmässig treffen. Laut Schätzungen von XR beteiligen sich 5000 bis 10 000 Protestierende an der Blockade in London. Der Funke ist auch auf andere Länder übergesprungen: Mehr als achtzig Städte rund um den Globus nehmen in dieser Woche an der «International Rebellion» teil.

Das Wachstum der Umweltbewegung wurde auch durch die hierarchiefreie Organisationsform erleichtert. Wer sich an einige Grundsätze hält – keine Gewalt, keine betrunkenen Aktionen –, kann eine lokale Gruppe gründen. In dieser Hinsicht erinnert XR an die Occupy-Bewegung, die ebenfalls horizontal aufgebaut war und auf eine Führung verzichtete. Allerdings war der damalige Protest weit unauffälliger als der grossräumige Verkehrsstopp im Londoner Zentrum.

In der ersten Nacht verhaftete die Polizei laut Angaben von XR mehr als hundert Protestierende bei der Waterloo Bridge, die Blockade blieb aber vorerst stehen. Im Protestcamp beim Marble Arch ist noch niemand festgenommen worden. Am Dienstagmorgen sind die AktivistInnen eifrig an der weiteren Planung: wer die Bühne beaufsichtigt und den Willkommensstand besetzt, wer das Direct-Action-Training leitet und wann die nächste Vollversammlung stattfindet. Die Protestierenden haben nicht vor, bald aufzugeben.

Nachtrag vom 25. April 2019 : XR: Tausend Festnahmen, fünfzig Anklagen

Sechs Tage nach Beginn des Klimaprotests in London forderte Bürgermeister Sadiq Khan die AktivistInnen von Extinction Rebellion (XR) auf, endlich aufzuhören, damit die Stadt wieder zu «business as usual» übergehen könne. Es war eine denkbar ungünstige Wortwahl – denn die Bewegung will gerade verhindern, dass alles so bleibt wie jetzt. Mit dem Ziel, die Regierung zu einer wirksamen Klimapolitik zu zwingen, brachte XR Anfang letzter Woche vier Verkehrsknotenpunkte unter Kontrolle und baute sie zu lebhaften Protestcamps aus.

Trotz der Versuche gehässiger Boulevardkolumnisten und konservativer Politikerinnen, die Verkehrsstörung als gefährliche Bedrohung darzustellen, erweckten die AktivistInnen viel Sympathie. Ihre Proteste waren familienfreundlich und betont höflich, und so sah die Polizei zunächst keinen Anlass, einzuschreiten. XR gewann auch die Unterstützung zahlreicher Prominenter im In- und Ausland – von Noam Chomsky bis zu Rowan Williams, dem ehemaligen Erzbischof von Canterbury. Höhepunkt war der Besuch der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, die am Sonntag vor mehreren Tausend Leuten auftrat.

Auf die Länge wurde es den Behörden dann doch zu viel. Über die Osterfeiertage räumte die Polizei eine Blockade nach der anderen, am Montag stand nur noch das Camp beim Marble Arch. Seit Beginn des Protests sind über tausend TeilnehmerInnen festgenommen und mehr als fünfzig angeklagt worden – ein Gründungsmitglied nannte es die «grösste Aktion zivilen Ungehorsams», die das Land je gesehen habe. Allein die Tatsache, dass XR den Kampf gegen den Klimawandel eine Woche lang in den Schlagzeilen halten konnte, habe den Protest zu einem Erfolg gemacht.

Peter Stäuber, London