Extinction Rebellion: «Auch bei uns können es sich nicht alle leisten, verhaftet zu werden»
Die «Rebellion gegen das Aussterben» stammt aus Grossbritannien, setzt auf drastische Bilder und ist in der Linken umstritten. Was ist von der Bewegung zu halten, die vielen einen Einstieg in den Aktivismus bietet?
Extinction Rebellion ist nicht die grösste Bewegung des Jahres 2019. Aber jene, über die wahrscheinlich am meisten diskutiert und gestritten wurde. Seit dem Sommer sorgte XR, wie sie kurz genannt wird, immer wieder für Schlagzeilen und auch für Debatten im Feuilleton: Was ist von dieser neuen Umweltbewegung mit ihrer apokalyptischen Bildsprache zu halten?
Im Frühling besetzten XR-AktivistInnen die Londoner Innenstadt, im September färbte XR Zürich die Limmat giftgrün, im Oktober folgten dann tagelange Aktionen in vielen Ländern, besonders gross in Berlin. Die AktivistInnen verkleiden sich als Tote oder als Trauergesellschaft, tragen Särge herum, ketten sich an Fässer und vergiessen gern literweise Kunstblut. XR gilt als «radikaler» Zweig der Klimabewegung, nicht zuletzt, weil viele Mitglieder bereit sind, sich verhaften zu lassen.
Nur drei Forderungen
Die Bewegung, die laut eigenen Angaben in mittlerweile 55 Ländern mit über 600 Ortsgruppen aktiv ist, beschränkt sich auf drei grundsätzliche Forderungen: Regierungen und Medien müssten «die Wahrheit» über die Klimaerhitzung sagen, ohne zu verharmlosen. Die Politik müsse sofort handeln und den Treibhausgasausstoss bis 2025 auf netto null reduzieren. Ausserdem seien BürgerInnenversammlungen einzuberufen, die an der Verwirklichung dieses Ziels arbeiten.
Im Oktober vertwitterte die deutsche Publizistin und Exgrüne Jutta Ditfurth einen «Warnhinweis»: XR sei eine «esoterische Sekte», weder rational noch links. Auch andere linke KritikerInnen verglichen XR mit einem Endzeitkult. Als dann XR-Mitgründer Roger Hallam im November den Holocaust als «just another fuckery in human history» bezeichnete (siehe WOZ Nr. 48/2019 ), schienen sich die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Bereits früher sagte Hallam, bei XR könne auch mitmachen, wer «ein bisschen sexistisch oder rassistisch denkt». Ist die Bewegung damit für linke KlimaaktivistInnen diskreditiert? Ist die Forderung nach BürgerInnenversammlungen demokratiefeindlich – und XR womöglich sogar anschlussfähig gegen ganz rechts, wie Ditfurth suggeriert?
Bei einer derart breiten Bewegung lassen sich diese Fragen kaum abschliessend beantworten. Fakt ist: Viele bei XR sind offen für spirituelle Elemente wie Gebete, Zeremonien und Meditation – doch das macht die Bewegung nicht automatisch zu einer reaktionären Sekte. Und XR versteht sich explizit nicht als links: «Ich finde es fatal, das Klima als linkes Thema zu definieren», sagt Lars, aktiv bei XR Zürich. «Es geht nicht um eine politische Richtung, sondern um wissenschaftliche Fakten.» Ein Treffen mit ihm, seiner Kollegin Myriam von XR Zürich und Serge von XR Luzern zeigt: Der Wille zur selbstkritischen Auseinandersetzung ist da.
Zur häufigen Kritik, Extinction Rebellion sei eine weisse Mittelschichtsbewegung, sagt Myriam: «Wir sind dran – wir reflektieren, wie wir Menschen ausserhalb unseres Umfelds ansprechen können.» Es gehe auch nicht darum, Verhaftungen zu glorifizieren: «Auch bei uns können es sich nicht alle leisten, verhaftet zu werden. Es gibt viele andere Möglichkeiten, sich zu beteiligen.»
Verdrängen unmöglich
Was die XR-AktivistInnen verbindet, ist ein Gefühl von Dringlichkeit. Myriam kam diesen Sommer «aus Verzweiflung» zur Bewegung: «Vorher ging ich an Demos, sammelte Unterschriften für Initiativen – alles sehr brav. Das genügt nicht mehr.» Serge erzählt, er habe sich im Hitzesommer 2018 ins Thema eingelesen und sei «extrem erschrocken». Lars wurde von der Klimajugend wachgerüttelt.
Klar könnte man fragen: Warum so spät? «Die Wahrheit ist so brutal, dass wir dazu tendieren, sie zu verdrängen», sagt Myriam. Viele bei XR berichten von einem Schlüsselmoment, in dem sie nicht mehr verdrängen konnten – und versuchen nun, weitere Menschen aufzurütteln. Daher auch die Hoffnung auf BürgerInnenversammlungen: «Wenn sie die richtigen Infos haben, werden sie progressiver entscheiden als Parlamente», sagt Serge. «Davon bin ich überzeugt.» Es gehe ihnen aber überhaupt nicht darum, bestehende Parlamente abzuschaffen.
«Hallam ist nicht mein Guru»
Und Roger Hallam? XR Deutschland hat sich deutlich von ihm distanziert. Lars und Myriam schliessen sich dieser Distanzierung an. «Hallam ist weder mein Guru noch mein Chef», sagt Myriam. «Wenn er bei XR Zürich wäre, würden wir sicher diskutieren, ob wir ihn ausschliessen müssen.» Auch Serge distanziert sich von Hallams Aussagen, möchte aber lieber wieder über die Klimakrise sprechen. Denn darum gehe es. Um das unsägliche Leid, das andernorts für viele bereits Realität sei und uns auch hier drohe.
«Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant», sagte Hallam im September gegenüber «Spiegel Online». Ähnlich klang es an einer XR-Veranstaltung im Oktober im Zürcher Cabaret Voltaire. Eine Besucherin argumentierte, dass sich doch manche Parteien fürs Klima eingesetzt hätten, ihnen aber die Macht fehle, sich durchzusetzen. Ein Organisator antwortete mit leicht herablassendem Gesichtsausdruck: «Erwartest du wirklich, dass die Politik das Problem lösen kann?»
Die Verachtung demokratischer Institutionen ist gefährlich und kann tatsächlich Anknüpfungspunkte für Rechte bieten. Doch wer kann der Klimabewegung die Ernüchterung verübeln? Die institutionelle Klimapolitik ist tatsächlich zum Verzweifeln, wie der Madrider Klimagipfel gerade wieder gezeigt hat. Die Frage ist, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen – und hier wird die Links-rechts-Frage eben doch relevant, auch wenn ihr XR ausweicht. Das Propagieren von BürgerInnenversammlungen suggeriert, das Problem sei die Parteipolitik und «einfache Bürger» hätten längst angemessene Antworten gefunden. Doch Klimapolitik ist Wirtschaftspolitik, und der Demokratie sind im Kapitalismus enge Grenzen gesetzt: Die Wirtschaft ist nicht demokratisch organisiert. Wie soll die Politik – oder eine BürgerInnenversammlung – nach vierzig Jahren Deregulierung und Globalisierung die Macht der Konzerne eingrenzen? Diese Frage stellt XR nicht – sie wäre wohl zu politisch für eine Bewegung, die «beyond politics» sein will.
Die institutionelle Politik ist für XR also diskreditiert – ziviler Ungehorsam soll den grossen Wandel bringen. Und es stimmt, er hat immer wieder entscheidende Veränderungen bewirkt, sei es in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder in der Anti-AKW-Bewegung. Allerdings idealisiert XR den zivilen Ungehorsam in einem Mass, das in einem seltsamen Kontrast zu den oft vor allem symbolischen Aktionen steht – wie etwa der fünfminütigen Blockade der Berner Bahnhofskreuzung letzten Sonntag. Auch fehlen Etappenziele, an denen sich der Erfolg solcher Aktionen messen lassen würde.
XR ist ein Angebot, das den Einstieg in den Aktivismus erleichtert. Bei allen problematischen Seiten, die das Übernehmen eines fertigen Programms mit sich bringt: Wenn dadurch mehr Menschen zu handeln beginnen, ist das positiv. Und XR ist nicht nur die Bewegung von Roger Hallam, sondern auch die von Carola Rackete: Die bekannte Seenotretterin stellt ihr Engagement für Flüchtende und gegen Klimawandel in einen gemeinsamen Kontext. Auch AktivistInnen wie sie prägen XR – hoffentlich entscheidender als der Gründer selbst.