Fotoparcours: Wie geblendete Gespenster

Nr. 20 –

Zwischen simpler Lochkamera und modernster Scantechnik: Die 23. Bieler Fototage loten ganz unterschiedliche fotografische Möglichkeiten aus. Bis wir unseren Augen nicht mehr trauen.

Was herauskommt, sind Umrisse, die sich im Licht auflösen: Von einem Schulkind gebastelte Lochkamera. Foto: Maxime Genoud

Die Rede von der digitalen «Bilderflut» ist mittlerweile selber zu einer Plage geworden. Und wenn gleichzeitig auch noch in diversen anderen Zusammenhängen ständig von Wellen, Fluten und Strömen gesprochen wird – Stichwort «Flüchtlingswelle» –, liegt der Schluss nahe: Solche Metaphern werden dort eingesetzt, wo man einer genaueren Analyse aus dem Weg gehen will. Statt etwas zu erklären, beschwört man einfach eine Naturkatastrophe herauf.

Jenseits von Panikmache

Es irritiert deshalb, dass nun auch die Bieler Fototage mit dem reisserischen Titel «Flood» operieren. Dabei ist es doch gerade die Stärke der aktuellen Auflage, die zum ersten Mal von der Genfer Fotografin Sarah Girard betreut wurde, dass gleich mehrere Beiträge die Produktion und Zirkulation von Bildern kritisch beleuchten – jenseits von jeder Pauschalisierung und Panikmache. Der zweifellos witzigste Kommentar zur Flut kommt vom Jurassier Augustin Rebetez. «Liquid Panic», flüssige Panik, nennt er sein Video, das sich an Quentin Tarantinos «Pulp Fiction» anlehnt, aber auch an den legendären Film «Der Lauf der Dinge» des Schweizer Künstlerduos Fischli/Weiss aus dem Jahr 1987.

Doch anstatt Kunst als haarscharf geglückte Kettenreaktion und geordnete Abfolge von bewältigten Hindernissen zu inszenieren wie bei Fischli/Weiss, zelebriert Rebetez den Fluss der Dinge als Ekstase der Explosion und des Scheiterns. Er lässt lauter Flüssiges auf- und auslaufen oder lustvoll zerplatzen: seien das nun Wasserbomben oder Bierdosen. Auf das Pathos der Flut antwortet er mit spritzigem Witz – «Liquid Panic» könnte der Publikumsliebling dieser Bieler Fototage werden.

Die Holländerin Esther Hovers wiederum fragt in «False Positives», nach welchen Kriterien Überwachungskameras den öffentlichen Raum absuchen: Wie werden «Anomalien» definiert, und welches Verhalten löst Alarm aus? Überhaupt nähern sich gleich mehrere der in Biel gezeigten Fotoarbeiten dem Reizthema Überwachung: mit kunstvollen Gesichtsverfremdungen aus Origami, mit bunten Masken aus Alltagsgegenständen und mit schamvoll vor der Kamera versteckten Köpfen.

Quasi als Gegenstrategie dazu betreibt die chinesische Künstlerin Pixy Liao eine Art freiwillige Selbstüberwachung: Offensiv inszeniert sie sich und ihren Freund als Liebespaar; wobei durchaus der Eindruck entstehen kann, dass diese Porträts immer auch eine fotografische Rückversicherung für eine letztlich prekär bleibende Liebe sind.

Familie auf dem Brettspiel

Ganz direkt mit der Reproduktion und Zirkulation von Bildern setzt sich der Zürcher Künstler Matthias Gabi in seiner fortlaufenden Serie «Repro» auseinander. Er interessiert sich für den Moment, als Fotografien in Gestalt von Reproduktionen in Büchern, Magazinen und anderen Drucksachen erstmals massenhaft in die Welt hinausgeschickt wurden. Dabei geht es ihm auch um die Frage, welche Ideen mit diesen Bildern mittransportiert werden und welche Bilder wir überhaupt als kostbar und aufbewahrungswürdig erachten. Was ist mit den Abbildungen im Ikea-Katalog? Oder dem Porträt einer «glücklichen» Familie auf dem Brettspiel aus den siebziger Jahren? Gabi präsentiert seine sorgfältigen Reproduktionen solcher Abbildungen in Biel im Stil früher Galerieausstellungen: in einem Raum mit altem Holztisch, Teppich und Blumenschmuck – als ironische Imitation des bürgerlichen Wohnzimmers, das einst als idealer Ort der Bildbetrachtung galt.

Auch bei anderen Exponaten gelingt der Spreizschritt zwischen alt und neu. Die digitale Fotografie hat sich ja heute weit von ihren Ursprüngen mit langer Belichtungszeit, Dunkelkammer, Chemie und klobig-schweren Kameras entfernt. Deshalb ist eine Rückkehr zum ursprünglichsten aller Fotoapparate aufschlussreich: zur Camera obscura als einer simplen dunklen Kammer oder handlichen Schachtel mit integrierter lichtempfindlicher Oberfläche und einem kleinen Loch fürs Licht.

Der Waadtländer Maxime Genoud zeigt Beispiele solcher Lochkameras aus Workshops, in denen Schulkinder ihre eigene Camera obscura aus Alltagsmaterialien wie Tetra Paks oder Vorratsdosen bastelten. Parallel dazu sind die Schwarzweissbilder zu sehen, die sich mit diesen primitiven Fotoapparaten herstellen lassen und auf denen die Menschen oft aussehen wie geblendete Gespenster, deren Umrisse sich im Licht auflösen.

Gewissermassen eine digitale Entsprechung zu den geisterhaften Schattenbildern aus der Lochkamera liefert der Freiburger Thibault Brunet mit allerneuster Technik. Für «Soleil Noir» erfasste er mit einem scannerähnlichen Aufnahmegerät die Umgebung und setzte die Bildpunkte nachher neu zusammen. So entstanden fragile künstliche Raumvisionen von verwunschener Schönheit, die sich beim Näherkommen in schwarzes Nichts auflösen.

Der ästhetische Sog dieser Arbeit ist umso bemerkenswerter, da sich die Übersetzung von digitalen Welten in den analogen Ausstellungsraum immer noch oft holprig gestaltet. In Biel steht man etwa ratlos vor den Papierstreifen des sogenannten «Social Printer», der unter einem Instagram-Hashtag gepostete Bilder ausdruckt. Und auch der «#Blue-Screen Temple», in dem der blaue Bildschirm als Signal für Programmfehler zu einer begehbaren Skulptur wird, wirkt umständlich. Die Idee dahinter versteht man wohl, doch die Umsetzung hat etwas Beliebiges. Solcher Kritikpunkte zum Trotz: ein gelungener Jahrgang in Biel.

Die über die ganze Stadt verteilten Ausstellungen der Bieler Fototage sind noch bis zum 2. Juni 2019 offen. www.bielerfototage.ch