Durch den Monat mit Nadine Wietlisbach (Teil 5): Soll Bilderlesen als Schulfach eingeführt werden?

Nr. 22 –

Wir alle sind heute Fotografinnen und Bilderleser. Die Direktorin des Fotomuseums Winterthur erzählt, was diese extreme Demokratisierung für ihre Institution bedeutet. Und warum die Umbauzeit für sie die Kirsche auf dem Kuchen ist.

Nadine Wietlisbach: «Im Lehrplan 21 werden der Umgang mit dem Bild und das Bilderlesen nicht explizit erwähnt.»

WOZ: Frau Wietlisbach, wie zeitgemäss ist es heute noch, ein Fotomuseum zu betreiben, also ein Spartenmuseum für Fotografie? Stellen Sie sich ab und zu die Sinnfrage?
Nadine Wietlisbach: Ich stelle mir diese Sinnfrage nie. Die Fotografie ist gesellschaftlich derart weitverbreitet und hat einen so grossen Stellenwert, dass sie fundamental dazu beiträgt, wie wir unsere Welt wahrnehmen. Viel stärker als andere Bildmedien. Deshalb ist es eminent wichtig, dass es Orte gibt, wo man Momente für die Konzentration findet, Momente, um Fragen zu stellen. Und nicht zuletzt Momente, um auch mal eskapistisch unterwegs zu sein.

Wo hört die Fotografie auf, was gehört noch dazu? Solche Abgrenzungsfragen scheinen Sie nicht sonderlich zu kümmern.
Nein, das interessiert mich tatsächlich nicht so sehr. Die Fotografiesparte hat weiche Ränder. Und das Austesten dieser weichen Ränder ist Teil des institutionellen Verständnisses des Fotomuseums. Da gibt es sehr viel Potenzial, um Sachen herauszufinden. Und man kann ja auch interdisziplinär unterwegs sein und Bezüge zu anderem schaffen.

Fast alle haben eine Kamera in der Hosentasche und benutzen sie auch ständig. Wie geht man als Fotomuseum mit dieser extremen Demokratisierung der Fotografie um?
Wir versuchen, Übersetzungen von verschiedenen Themen zu finden, die dieser Alltagsgebrauch der Fotografie heute mit sich bringt. Dass alle ständig fotografieren und Bilder posten, interessiert uns. Aber es interessiert uns zuallererst als soziales und politisches Phänomen. Deshalb passt es am besten in ein Vermittlungsformat, wo man solche Fragen dann gemeinsam thematisieren kann. Was bedeutet diese ganze Bildermenge für unsere Wahrnehmung? Nicht jedes Phänomen, das die Fotografie heute auszeichnet, muss auch zwingend im Ausstellungskontext präsentiert werden. Das ist alles eine Frage des Formats.

Vermittlung spielt in vielen Museen eine immer grössere Rolle. Besteht da nicht die Gefahr, dass man Inhalte irgendwann nur noch an ihrem Vermittlungspotenzial misst?
Ich glaube, dass diese Gefahr bei Häusern mit anderen Ausrichtungen grösser ist. All diese Fragen, die heute auftauchen, etwa betreffend Bildmedienkompetenz, sind der Fotografie eh inhärent. Das bedeutet, dass sich für uns fast ohne Anstrengung Formate für die Vermittlung ergeben. Und es ist auch automatisch eine Nachfrage da, was nicht zuletzt mit dem Schweizer Bildungssystem zu tun hat.

Wie meinen Sie das?
Wir springen da in eine Bresche. Der Lehrplan 21 hat zwar ein Modul, das Medien und Informatik heisst. Doch der Umgang mit dem Bild und das Bilderlesen werden nicht explizit erwähnt. Im Moment arbeiten wir an einem grösser angelegten schulischen und generationenübergreifenden Vermittlungsprojekt.

Soll Bilderlesen als Schulfach eingeführt werden?
Ja, unbedingt! Wir als Fotomuseum können hinstehen und sagen: Wir haben dieses Wissen, das sind unsere Rechercheerkenntnisse und statistischen Erhebungen. Das ist eine sehr gute Ausgangslage. Und es gibt ja tatsächlich auch einen Wissensbedarf von aussen. Was wir allerdings nicht machen: den Leuten quasi Wissen aufzwingen, indem wir ihnen etwa sagen, ihr müsst jetzt alle erklären können, dass Algorithmen voreingenommen sind. Wir versuchen vielmehr, gemeinsam mit Eltern, Jugendlichen und Lehrpersonen herauszufinden, wie Algorithmen funktionieren und was sonst noch interessant sein könnte. Wir sind Dialogpartner, nicht einfach die Institution, die Wissen zur Verfügung stellt.

Im Moment ist Ausstellungsumbau im Fotomuseum. Was bedeutet das für Ihren Alltag?
Es herrscht eine angenehme Angespanntheit. Umbau ist wie die Kirsche auf dem Kuchen meines Direktorinnendaseins. Und zwar, weil ich dann viel Zeit im Ausstellungsraum verbringen kann. Ausserdem fallen in dieser Phase des Aufbaus wichtige Entscheide, die zum Teil ungeheuren Einfluss darauf haben, was dann an der Vernissage an die Öffentlichkeit kommt. Auch wird die ganze Kopfarbeit, die im Vorfeld passierte, nun handfest. Es muss alles nochmals dem räumlichen Check unterzogen werden.

Die nächste Ausstellung ist mit der französischen Künstlerin Sophie Calle. Was fasziniert Sie an ihr?
Sie arbeitet mit Leerstellen, mit dem, was man nicht sieht. Auch mit Lücken zwischen Bildern und Worten. Was natürlich erst mal ein Paradox ist, wenn man sich mit Fotografie beschäftigt. Das andere, was mich sehr interessiert: Sie ist eine tolle Geschichtenerzählerin – kann aber auch sehr gut zuhören. Wenn sie mit jemandem zusammenarbeitet, geht es um Sichtweisen von ganz unterschiedlichen Leuten. Und nicht zuletzt ist Sophie Calle eine sehr geheimnisvolle Künstlerinnenfigur. Sie ist nicht einfach einzuordnen. Auch das war eine Motivation für mich, sie nach Winterthur einzuladen.

Seit Januar 2018 ist Nadine Wietlisbach (36) Direktorin des Fotomuseums Winterthur. Die neue Ausstellung mit Sophie Calle wird am Freitagabend, 7. Juni 2019, um 18 Uhr eröffnet. www.fotomuseum.ch