Dada-Techno: Blöde Fragen in die Weltgeschichte stellen

Nr. 23 –

Das Kollektiv «HGich.T» hinterfragt den Sinn hinter Rave, Kunst und Leben. Jüngster Vorschlag aus seinem Nonsenskosmos: «Jeder ist eine Schmetterlingin».

Ist das nun Quatsch, Comedy oder Clubkultur? Opa16 ists egal. FOTO: HGICH.T

«Und zum Schluss haben sie alle Gruppensex mit einem Baum?» Der Youtube-Nutzer Greg Hitchcock kann es nicht fassen. Irgendwo zwischen Entsetzen und Faszination kommentierte er den Videoclip zu «Therapie wirkt», einem HGich.T-Song aus dem Jahr 2017. Der endet nach dreieinhalb Minuten Old-School-Rave auf dem Acker mit einer unzweideutigen Szene im deutschen Wald. Zwei Frauen und zwei Männer reiben sich an einem Stamm, stöhnen, grunzen und stossen Lustschreie aus. Begriffe wie «Angstzustand», «Krankheit» und «Opfer vom System» haben sie vorher tanzend in den Boden gestampft und aufgelöst.

Opas Lustmolchanwandlungen

Der Youtube-Nutzer ist nicht allein mit seiner Ratlosigkeit. Ist das nun Quatsch, Comedy oder Clubkultur? Im Grunde alles davon, vermutlich sogar noch mehr. HGich.T sind ein KünstlerInnenkollektiv aus Hamburg und produzieren Ballaballa-Techno, dessen irritierende Wirkung in Videos und Performances am besten zur Geltung kommt. Der Name der Gruppe reimt sich entgegen dem Bauchgefühl und dem Habitus dieser Musik nicht auf «sternhageldicht», sondern wird «Ha-ge-ich-te» ausgesprochen. Die zentralen AkteurInnen nennen sich DJ Hundefriedhof, Jacky Herzblut, Vhagvan Svami, Tutenchamun und Anna-Maria Kaiser. Daneben gibt es eine schwankende Anzahl weiterer Mitglieder und Opa16 als assoziierten Sympathieträger.

Der Opa heisst im echten Leben Dietrich Kuhlbrodt, ist Hamburger Oberstaatsanwalt ausser Dienst und beschäftigte sich als solcher viele Jahre mit den Verbrechen der NS-Zeit. Seit den achtziger Jahren war er an Projekten von Christoph Schlingensief regelmässig als Schauspieler beteiligt und schrieb unter anderem ein Buch über Die tödliche Doris, eine zentrale Band in der Bewegung der Genialen Dilletanten aus der Westberliner Subkultur. In den teilweise millionenfach geklickten HGich.T-Clips gibt Kuhlbrodt nun mit 86 Jahren den Rave-Senior mit Lustmolchanwandlungen.

Der kleine Opa16-Exkurs hilft in puncto Entsetzen, Faszination und Ratlosigkeit weiter, weil er die wichtigsten Grundbedingungen für die Existenz von HGich.T beinhaltet: Dilettantismus, Hang zu Berserkerperformances, Songtexte voller Dada-Nonsens, die nach neuer Neuer Deutscher Welle klingen. Nicht zuletzt die Erkenntnis, dass jedes Gesetzbuch Platz für Antidisziplinierung und die freie Entfaltung des Individuums lassen muss, und sei es nur ein platt getrampeltes Feld in der norddeutschen Pampa.

Mit diesem Programm veröffentlichen HGich.T nun «Jeder ist eine Schmetterlingin», ihr fünftes Album seit dem Debüt «Mein Hobby: Arschloch» (2010). Unterm Pflaster liegt der Strand, unterm Techno der Punk. HGich.T bleiben mit Musik und Text wieder bevorzugt jenseits des guten Geschmacks. Sie setzen auf Kindergartenmelodien und Sekundarschulhumor. Einmal mehr wird auch ein harter Kuschelkurs für dendrophile (also bäumeliebende) RaverInnen gefahren.

Die Ouvertüre der «Schmetterlingin», ein Stück namens «Teddy lebt», zelebriert die Bestattung eines Plüschtiers und seine Wiederauferstehung in gerade einmal einer Minute und 23 Sekunden. Offensichtlich steckt in diesem Album das Versprechen eines Neuanfangs. Jede noch so unscheinbare Raupe kann sich verpuppen und in neuem Glamour aus dem Kokon schlüpfen. Aber was geht hier zu Ende? Was fängt neu an?

Im ästhetischen Sinn und mit Rückblick auf HGich.Ts bisheriges Werk eher wenig. Die Lieder bleiben vergleichsweise drogenfrei, die aus dem Alltag gegriffenen Themen verlagern sich schwerpunktmässig auf die grossen (pop)kulturellen Erzählungen unserer Zeit. So gibt es eine «Herr der Ringe»-Paraphrase mit Bassdrumbegleitung und eine Afterhour-Durchhaltehymne über «Star Wars». Das Verdrehen der Wörter «Vader», «Raver» und «Vater» ist dabei für ulkige Effekte ebenso gut wie für psychologische und gesellschaftspolitische Einsichten: «Wo war ich, als dein Vater auf’m Rave war? Wo ist dein Vater, als der Rave zu Ende war? Wo ist der Rave, als dein Stiefvater da war? Wo kommen all die Raver her?», lauten einige der Fragen, die in «Kinder der Raver» aufgeworfen werden. Damit geht es im HGich.T-Universum ums Ganze. Wie soll sich eine nächste Generation noch freifeiern und emanzipieren, wenn man von seinen Druffie-Eltern irgendwo im Gebüsch am Rand einer tagelangen Goaparty gezeugt wurde?

Soundtrack zur Dysfunktion

HGich.T teilen in dieser Hinsicht durchaus einiges mit Youtube-Nutzer Hitchcock. Sie geben keine eindeutigen Antworten, sie stellen lieber blöde Fragen in die Weltgeschichte und ins Internet. Das ist ein Anfang. Das sinnvollste Angebot macht in diesem Nonsenskosmos aber ohnehin der Beat. Er erzählt vom Feiern als aktiver Form der Verweigerung, für die man körperlich an die Grenzen der Totalverausgabung geht. «Jeder ist eine Schmetterlingin» ist der funktionale Soundtrack zur Dysfunktion.

Das Video zum neuen Song «Uboot» spielt einmal mehr im deutschen Wald. Es zeigt vier Bräute, also Frauen in weissen Hochzeitskleidern, und Opa16 als Jäger, der von einem Enddreissiger-Technohippie mit Ficki-ficki-Gesten beglückt wird. Ja, es werden auch wieder Bäume gestreichelt. Der Titel von Dietrich Kuhlbrodts Buch über Die tödliche Doris lautet übrigens «Naturkatastrophen selbermachen».

HGich.T: Jeder ist eine Schmetterlingin. Tapete. 2019